100 Jahre sozialer Freiraum - Eine Reise durch die Freiräume des sozialen Wohnbaus in Wien von 1919 bis 2019

In einer ersten Recherche wurden über 150 geförderte Wohnbauten, die sich verstreut in Wien befinden, anhand der Merkmale wie Kennzahlen, Bau- und  Freiraumtypologien gesichtet und auf ihre Errungenschaften im Freiraum analysiert und eine Auswahl von 54 Anlagen betroffen. Diese 54 Wohnbauanlagen wurden in der Folge begangen und auf der Grundlage eines in einer vorangehenden Pilotstudie zur Beurteilung der Effizenz von Freiräumen (Standler, K., 2019) entwickelten Fragebogens, dem „Freiraumcheck“, vor Ort ausgewertet. Anschließend wurde die Entwicklung der sozialen Freiräume dieser 54 Wohnbauanlagen in ihrem historischen Kontext auf ihre Errungenschaften im Freiraum untersucht, um verschiedene Themenbereiche zur Freiraumnutzung in ihren sozialen und ökologischen Dimensionen zu analysieren und eine Spaziergangsroute – ein roter Faden – entlang der U-Bahn Linie 1 zusammengestellt. Ziel der Studie ist es, die ursprünglichen Intentionen der Freiraumgestaltung mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen und dem Ist-Zustand zu vergleichen, um auf diese Weise die Herausforderungen der Freiraumgestaltung im Wiener Wohnbau der Zukunft als Maßnahmenpaket darzustellen.

 Errungenschaften im sozialen Freiraum der 1920er bis 1930er Jahre

Die Studie nimmt ihren Ausgang im „Roten Wien“ (1919 – 1933). Was als Utopie angedacht schien, zeigt sich heute als logisch nachvollziehbare Entwicklung von der Siedlerbewegung zum Gemeindebau, als neue Bau- und Freiraumstrukturen (Wohnhöfe, begrünte Innenhöfe, Mieterbeete) das bestehende Problem des Wohnungs- und Freiraummangels in Wien auf vorbildliche Weise lösten und die Gesundheit und soziale Situation der BewohnerInnen verbesserten. Das Motto der Wohnbaugestaltung, inklusive der entsprechenden sozialen Freiräume, beruhte auf dem Motto Luft, Licht und Sonne. In vielen Anlagen korrespondiere die auf Selbstversorgung ausgerichtete Freiraumzonierung stark mit der zu dieser Zeit Aufkommenden Kleingartenbewegung. Der soziale Freiraum bedeutete in den 1920er – 1930er-Jahren eine enorme Verbesserung des Lebens der Frauen, die Infrastruktur des sozialen Wohnbaus erleichterte ihnen ganz wesentlich den Alltag.

Errungenschaften im sozialen Freiraum der 1950er bis 1980er Jahre
Die zweite Phase der Wiener Wohnbaugestaltung der 1950er – 1980er-Jahre konzentrierte sich auf die Stadtreparatur in Form der Lückenverbauung – der rasche Wiederaufbau stand im Vordergrund. Der funktionalistische Stadtplan (vgl. „Planungskonzept Wien“) brachte 1962 den Durchbruch. Er sah die explizite räumliche Trennung von Wohn-, Erholungs- und Industriegebieten vor und beruhte auf der Intensivierung des PKW-Verkehrs; gleichzeitig machte sich ein Qualitätsverlust im Freiraum bemerkbar. Zu dieser Zeit spricht man von der zweiten Welle von BewohnerInnen, die aus den Gründerzeitbauten der Innenstadt an den Stadtrand zogen. An der Peripherie Wiens entstanden „Großwohnhausanlagen“ wie die Großfeldsiedlung, die Per-Albin-Hansson-Siedlung, die Trabrenngründe, der Wohnpark Alt-Erlaa, Am Schöpfwerk oder Wienerflur sowie Industriegebiete (Auhof, Strebersdorf, Inzersdorf) und Einkaufszentren (Donauzentrum, Shopping City Süd). In der Folge kam es in einigen Anlagen zu sozialen Problemen, wie etwa in der 1980 fertiggestellten Wohnhausanlage „Am Schöpfwerk“: Jugendarbeitslosigkeit, Kriminalität, Leerstände, Vandalismus, homogene Altersstruktur. Um diesen Problemfällen der Wiener Stadtentwicklung entgegenzuwirken, wurde vermehrt auf Sozialarbeit gesetzt und die Gebietsbetreuungen wurden ins Leben gerufen. Die Freiräume dagegen wurden vernachlässigt, ihre Sanierung ist weiter offen und bis heute nicht gelöst. Interessant ist, dass bereits 1974 das Wiener Baumschutzgesetz „zur Erhaltung einer gesunden Umwelt für die Wiener Bevölkerung“ in Kraft getreten ist.

Errungenschaften im sozialen Freiraum der 1990er Jahre bis heute
In einer dritten Phase in den 1990er-Jahren begann eine erste Sanierungswelle des Wohnungsaltbestandes der Stadt Wien, um den Wohnstandard anzuheben. Neue Anlagen sollten sich besser in ihre Umgebung einfügen, vom Straßenverkehr abwenden, öffentlich gut erreichbar und vor allem mit der nötigen Nahversorgung ausgestattet sein. Damit rückte ein Grundgedanke des „Roten Wien“ aus den 1930er-Jahren erneut in den Mittelpunkt: Es wurde wieder Wert auf die Sozialisierung des Wohnens und die Planung des Freiraums verstärkt in die Hände von LandschaftsarchitektInnen gelegt. In dieser Zeit wurden unter anderem Kleinkinderspielplätze (30 m2) sowie Kinder- und Jugendspielplätze (500 m2) in der Spielplatzverordnung gesetzlich festgeschrieben.

In den letzten zehn Jahren setzte die Stadt Wien auch zum Thema Freiraum auf Forschungsarbeiten. Im Stadtentwicklungsplan Wien 2025 wurden die Kennzahlen zur Sicherung der Freiraumversorgung verbindlich niedergeschrieben. Stadterneuerung und themenspezifische Projekte, Stadterweiterungen, Großprojekte, Bauträgerwettbewerbe, Baugruppen und kooperative Verfahren wurden im System der Stadt Wien verankert. Im Jahr 2009 wurde dem 3-Säulen-Modell zur Bewertung von geförderten Wohnbauvorhaben in Wien eine vierte Säule hinzugefügt. Die Säulen „Architektur“, „Ökonomie“ und „Ökologie“ wurden um die Säule „Soziale Nachhaltigkeit“ ergänzt. Der Freiraum ist in der Säule Ökologie verankert, spielt jedoch in die Architektur und in die Soziale Nachhaltigkeit hinein, ihm kommt dabei eine qualitative Rolle zu. Qualitätskriterien zur Beurteilung der Freiraumqualitäten wurden im 4-Säulen-Modell nun definiert.

Soziale Freiraum ab 2020 - Herausforderungen für die Zukunft
Die Analyse der bestehenden Freiräume in Wohnhausanlagen der letzten 100 Jahre bezeugt den Wandel von Nutzungsansprüchen, etwa im Bereich von Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Fehlende Ausstattungen, der Wegfall von benachbarten Nutzungen und bereits spürbare Auswirkungen des Klimawandels lassen auf die Vernachlässigung des Freiraums schließen. Insbesondere der Wegfall der Gartennutzung als Nachbarschaftstreff und von Selbstversorger- Einrichtungen wie Mieterbeeten und -gärten ist zu bemängeln. Die ursprünglichen Funktionen wie Erholung, Spiel und Produktion sind wiederherzustellen, der Durchgrünungsgrad ist zu verbessern, die Nutzung der Freiräume ist zu optimieren und fehlende Ausstattung zu ergänzen.

Trotz 100 Jahre sozialer Freiraum wird der Mangel an Grün- und Freiraum immer auffälliger und der Bedarf an gezielt geplanten Strukturen steigt. So zeigen sich für die Zukunft der sozialen Freiräume neue Herausforderungen, die in dieser Studie näher erläutert werden. Dabei wird in den Fokus gerückt, dass der soziale Freiraum einen Mehrwert für die Stadt darstellt und zur Gesamtaufwertung eines Stadtteils beiträgt. Ebenso bedeutet der soziale Freiraum eine Verteilungsfrage zwischen den Geschlechtern und sozialen Gruppierungen, vor allem bei immer knapper werdenden Freiraumressourcen einer Stadt. Eine gendergerechte Planung berücksichtigt unterschiedliche Nutzungsgruppen und Lebenslagen gleichermaßen. Schließlich kommt dem sozialen Freiraum eine bedeutende Rolle in ökologischen Fragen zu: Er ist ein Schlüssel zum Klimaschutz und trägt zur Vermeiden von urbaner Überhitzung. Grünräume verbessern das Mikroklima und leisten einen heute mehr denn je notwendigen Beitrag zur Vervollständigung und Verbindung des Freiraumnetzes der Stadt.

Eine Reise durch den sozialen Freiraum entlang der U1
Die erste U-Bahn-Linie Wiens, die U1, eignet sich ausgezeichnet, um die Zeitreise durch verschiedenste Freiräume des geförderten Wiener Wohnbaus Wohnbaus zu unternehmen. Nicht nur geographisch leistet diese infrastrukturelle Achse einen Schnitt durch die gesamte Stadt, sie bildet den sprichwörtlichen roten Faden, durch die Farbe ihres Leitsystems sowie durch die verschiedenen Themen, die sich in den 21 ausgewählten Wohnprojekten entlang der Stationen erschließen. Zu guter Letzt ist diese U-Bahn-Linie selbst ein Teil der Geschichte des Städtebaus in Wien und war stets ein wichtiges Planungsinstrument zur Erschließung neuer (Wohn-) Gegenden.

Abschließend bietet die Studie drei Routen an, an denen die Entwicklung des sozialen Freiraums in Wien anhand der Themenfelder und des konzeptionierten Maßnahmepakets anschaulich nachvollzogen werden kann. Alle drei Routen sind als Stadtspaziergänge angelegt, die kombiniert werden oder einzeln entdeckt werden können und in allen diesen Formen jeweils einen Querschnitt durch ein Jahrhundert des sozialen Freiraums in Wien bieten – und somit durch 100 Jahre Stadtentwicklung.

Route 1 Wien Süd: Um den Laaer Berg – Die Favoriten von Favoriten

Route 2 Wien Mitte: Im Donautal – VorgartenstraSSe bis Kaisermühlen

Route 3 Wien Nord: Von der Siedlerbewegung zu partizipativen Prozessen
Fakten
  • Fördergeber
    MA 50 (Wohnbauforschung und internationale Beziehungen)
  • Projektträger
    Karin Standler
    Landschaftsarchitektur
  • Projektteam
    Karin Standler
    Jana Kilbertus
    Suzanne Krizenecky
    Doris Seebacher
    Liz Zimmermann
  • Dauer
    01/20
  • Downloads
  • Endbericht_DE 30.3 MB