Living Streets Wien

Einleitung

Diese Untersuchung von sechs Wohnanlagen in Wien konzentriert sich auf die Fragestellung, welche Vorstellungen die Menschen von einem nachbarschaftlichen Leben haben und wie sie Zugangsbereiche gemeinschaftlich nutzen.

Die genaue Analyse von Wohnanlagen, die sich als lebhafte Gemeinschaften auszeichnen soll des weiteren Aufschluss darüber geben, welche Bedeutung die baulichen und räumlichen Voraussetzungen für die Entwicklung von guten Nachbarschaften haben. Dem Laubengang kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.

streets in the air

Der Laubengang hat sich zur Zeit der Industrialisierung vor allem als wirtschaftliche Erschließungstypologie vieler kleine Wohneinheiten im Geschosswohnungsbau verbreitet.

Früh haben Sozialreformer versucht, diese Erschließungsform nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern auch unter sozialen Gesichtspunkten zu betrachten.

Auch in den untersuchten Projekten wurde auf unterschiedlichste Weise versucht, die ‚Straße' als soziale Kontaktfläche mit dem Geschosswohnungsbau zu verbinden.

Wir sind davon ausgegangen, dass die Menschen grundsätzlich den Wunsch haben, in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung Kontakte und Freundschaften zu entwickeln und haben daher zum einen die baulichen und typologischen Merkmale der Wohnanlagen untersucht und zum anderen die Bewohner nach ihrer Einschätzung der Wohnatmosphäre und nach ihren Bedürfnissen befragt. Es ist die Balance zwischen Offenheit und Abgeschlossenheit sowohl in Bezug auf die Wohnung, als auch auf die Umgebung, die bei der Ausbildung des Zugangsbereichs eine wichtige Rolle spielt. Diese Balance aber lässt sich nicht nur baulich fassen; sie ist auch von den Lebensgewohnheiten der Bewohner abhängig. Die Untersuchung verdeutlicht zum einen, dass räumliche Defizite durch das gemeinschaftliche Engagement der Bewohner ausgeglichen werden können und zum anderen, dass durch bauliche Maßnahmen allein auf dem Laubengang noch keine lebhafte Hausgemeinschaft entsteht.

Die Wohnanlagen

Die Laubengänge der untersuchten Projekte folgen in ihrer baulichen Ausprägung sehr unterschiedlichen Konzepten. Sie haben allerdings gemeinsam, dass die Wohnungen um zentrale Zugangsbereiche herum angeordnet sind.

  • Die Wohnanlage in der Apollogasse ist ein Beispiel eines Pawlatschenhauses, wie es im 19. Jahrhundert für Arbeiter errichtet wurde.
  • Im Wohnheim Miss Sargfabrik wurden die positiven Aspekte dieses Pawlatschenhaus-Bautyps zu einer zeitgemäßen Form des gemeinschaftlichen Wohnens entwickelt.
  • Die überdachten Passagen der Wohnanlage in der Zschokkegasse lassen Ähnlichkeiten zu den Familistères in Guise erkennen. Die Passage dient der Erschließung der Wohnungen und der Hausgemeinschaft für Feste.
  • Die Wohnanlage im Satzingerweg und in der Gschwandnergasse haben Laubengänge, die explizit Bereiche der Bewegung und als Erweiterung Nischen für den privaten Aufenthalt ausweisen.
  • In dieser Richtung noch einen Schritt weiter geht die Wohnanlage in der Breitenfurter Straße, denn der öffentliche Laubengang und die privaten Terrassen werden durch einen Zaun und Gartenpforten von einander getrennt.

Ergebnisse

Eine große Bedeutung für die Zufriedenheit der Bewohner hat deren Gefühl, in einer außergewöhnlichen Wohnanlage zu wohnen. Dieses Gefühl wird zum Teil durch die Prägnanz und Einmaligkeit der Architektur genährt. Wichtiger scheinen für die Bewohner aber Möglichkeiten zu sein, die Wohnumgebung mitgestalten zu können. Besonders gerne engagieren sie sich bei der Begrünung ihrer Wohnumgebung. So war die Zufriedenheit der Bewohner in begrünten Wohnanlagen größer, als in Anlagen, die nicht von den Bewohnern begrünt werden.

Die Ausbildung einer lebhaften Hausgemeinschaft und positiven Wohnatmosphäre ist in starkem Maße abhängig von der Größe einer Wohnanlage. Die größeren Anlagen wurden von den Bewohnern als weniger lebhaft beschrieben und erschienen auch uns bei unseren Besuchen als weniger geeignet, gemeinschaftliche Nachbarschaften zu fördern, als kleinere Anlagen, deren Bewohner sich schneller kennen lernen.

Außerdem ist die Wohnatmosphäre abhängig von dem Vorhandensein privater Freibereiche. Bewohner, die über eigene Balkone oder dergleichen verfügen, beteiligen sich weniger am Gemeinschaftsleben. Auch wenn die meisten Bewohner sich private Freibereiche wünschen, sind diese eher hinderlich bei der Entwicklung einer Hausgemeinschaft, denn es sind die Zugangsbereiche, in denen die Bewohner zwanglos mit einander in Kontakt kommen. Je mehr private Freibereiche eine Wohnanlage hat, desto weniger finden in den Zugangsbereichen solche Überlagerungen verschiedener Aktivitäten statt. Werden diese nur als Abstellflächen genutzt, so werden sie zu Rückseiten. Bestehen in den Zugangsbereichen räumliche und visuelle Beziehungen zu den Wohnungen, so wirken sie auch als Bewegungsräume interessanter.

Die Lage der Zugangsbereiche innerhalb der Wohnanlage hat einen Einfluss darauf, wie sie sich zu gemeinschaftlichen Räumen entwickeln. Bilden Laubengang, Hof oder Passage ein Zentrum, um das herum sich die Wohnungen gruppieren, so können sie zu Treffpunkten der Hausgemeinschaft werden. Die untersuchten Projekte zeigen verschiedene gute Beispiele, wie die Zugangsbereiche räumlich integriert und mit den alltäglichen Bewegungen der Bewohner durch ihre Wohnanlage in Einklang
gebracht werden können.

Wohnformen, die einen besonderen Wert auf gemeinschaftliche Nachbarschaften legen, passen besonders gut zu den hier untersuchten Typologien. Als informeller Ort der Begegnung ist der Laubengang sehr geeignet, da dort zufällige Begegnungen begünstigt werden. Unabhängig von der Wohnanlage wünschen sich die Bewohner mehrheitlich eine Hausgemeinschaft, die auf solchen lockeren Kontakten beruht. Sie möchten ihre Nachbarn persönlich kennen und sich auch gelegentlich mit ihnen unterhalten, aber sie vermeiden nachbarschaftliche Kontakte, die Zwänge auslösen. So sind die meisten auf der Suche nach einer Wohnsituation zwischen gemeinschaftlichem Halt und persönlicher Freiheit. Diesem Ziel kommen jene Bewohner näher, die den Laubengang als Erweiterung ihrer Wohnung nutzen, weil sie selbst steuern, inwieweit sie sich der Gemeinschaft öffnen oder in private Bereiche der Wohnung zurück ziehen. Viele Bewohner haben das Gefühl, dass sich die gemeinschaftlichen Zugangsbereiche ihrer Wohnanlage besonders eignen, um lockere, zwanglose Kontakte zu Nachbarn zu entwickeln.

Wir müssen heute im Wohnungsbau von heterogenen Bewohnerschaften ausgehen, in denen die Kleinfamilie nur noch ein Lebensentwurf unter vielen ist und Bewohnerschaften sich zunehmend aus Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft zusammen setzen. Auf der Suche nach gemeinschaftlichen Wohnformen wollen sich die Menschen keinen Zwängen unterwerfen und nicht unbedingt genauso leben, wie ihre Nachbarn. Die Anforderung, individuelle Bedürfnisse mit dem Wunsch nach Gemeinschaft in Einklang zu bringen ist ein wichtiges Thema des aktuellen Wohnungsbaus. Die untersuchten Anlagen versuchen, einen Rahmen für die Entwicklung gemeinschaftlicher Wohnformen zu schaffen. Nicht nur das Engagement der Bewohner, sondern maßgeblich bauliche und räumliche Merkmale wirken sich positiv auf die Wohnqualität aus, wenn sie der Hauptnutzung der untersuchten Bereiche gerecht werden, dem tagtäglichen Gang über den Laubengang.
Fakten
  • Projektträger
    Technische Universität München, Lehrstuhl für Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft
  • Projektleitung/Bearbeiter
    Peter Ebner
    Julius Klaffke
  • Laufzeit
    März bis Dezember 2005
  • Kontakt
    lww[at]lrz.tum.de
  • Downloads
  • Abstract 317.93 KB
    Projektbericht 4.5 MB