Quartiersarbeit andernorts - Exkursion nach Hamburg vom 06.-08. Juli 2011

Gemeinsam mit dem amtsführenden Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung, Dr. Michael Ludwig, und VertreterInnen aus der Wiener Stadtverwaltung machte sich das Team der GB*12 auf, um in Hamburg verschiedene Stadterneuerungsprojekte zu besuchen. Der nachfolgende Exkursionsbericht soll einen kleinen Einblick in die - trotz ähnlicher Ziele sehr unterschiedlichen - Herangehensweisen an verschiedene Themen der Stadterneuerung und Quartiersarbeit ermöglichen.

Unter dem Titel „Quartiersarbeit andernorts“ organisierte die GB*12 ein dreitägiges Exkursionsprogramm in Hamburg, das auf zentrale Tätigkeitsfelder und aktuelle Fragestellungen der Wiener Gebietsbetreuungen ausgerichtet war. Gemeinsam mit VertreterInnen der AuftraggeberInnenseite wurde der Versuch unternommen, zwei Städte, die hinsichtlich Eckdaten wie Bevölkerungszahl und Größe, aber auch Kaufkraft und politischer Ausrichtung ähnlich sind, zu vergleichen und darüber hinaus für die inhaltliche Ausrichtung der Wiener Gebietsbetreuungen neue Aufschlüsse zu erhalten.

Neben den Themenkomplexen des demographischen Wandels, des interkulturellen Wohnens und der Aufwertung ganzer Stadtteile, wurden Fragen im Zusammenhang mit der Sanierung von Großwohnanlagen, BewohnerInnenprotesten im Zuge von Stadtteilaufwertungen und die Entstehung und Förderung alternativer Wohnformen in Hamburg diskutiert.

Durch die vielfältigen Arbeitsansätze und Herangehensweisen der besuchten Insti-tutionen sowie ihre unterschiedliche Positionierung innerhalb der Stadterneuerungsszene Hamburgs, konnte den ExkursionsteilnehmerInnen ein facettenreicher Blick auf die alltäglichen Herausforderungen im Bereich der Stadterneuerung in Hamburg geboten werden.

Dabei stellte sich heraus, dass die Quartiersarbeit aber auch der soziale Wohnbau in Hamburg sehr stark von bottom-up-Prozessen geprägt sind und Entwicklungen und Veränderungen eher durch Reaktion auf Protest-, Besetzungs- und BürgerInnen-bewegungen ausgehen als vom Gestaltungswillen der Hamburger Rathauspolitik. Sehr markant erschien uns die Forcierung von Eigentum als bevorzugte Organisationsform des Wohnens, während die klassische Miete selbst im kommunalen Wohnbau hinterfragt wird. Die Stadt Hamburg verkauft ihre Grundstücke durchaus an die bestbietenden BauträgerInnen und InvestorInnen, die dann in inner-städtischen Lagen das Luxussegment bedienen, während preisgünstige Wohnan-lagen vornehmlich in infrastrukturell benachteiligten, unattraktiven Lagen entstehen.

Internationale Bauausstellung Hamburg

Tag 1 stand ganz im Zeichen der Internationalen Bauausstellung Hamburg (IBA Hamburg von 2007 - 2013): Hier wurde neben der multimedialen und interaktiven Ausstellung IBA AT WORK die Siedlung WELTQUARTIER besichtigt, wobei vor allem das bei deren Sanierung angewandte Beteiligungsverfahren der BewohnerInnen aus 30 Nationen im Mittelpunkt des Interesses stand. Anschließend konnte mit dem VERINGECK ein Projekt für interkulturelles Wohnen im Alter besucht werden.
Das Format der IBA stellt ein Instrument der Stadtplanung dar und bietet deutschen Städten seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Möglichkeit über Jahre hinweg städtebaulich, architektonisch und gesellschaftlich relevante Fragen durch die praktische Umsetzung innovativer Entwürfe zu erforschen. Hamburg setzt sich mit der aktuellen IBA das Ziel, die Barriere des Elbflusses zu überwinden – ein Unterfangen, das im historischen und geografischen Kontext einer Herkulesaufgabe gleichkommt, für die Entwicklung der Stadt bzw. des Siedlungsraumes aus Sicht der Hamburger Stadtplanung aber von enormer Bedeutung ist. Gleichzeitig löst das Unternehmen bei der eingesessenen Bevölkerung Ängste und Abwehrverhalten aus, weil sie zu Recht Verdrängungsmechanismen befürchtet und diese trotz hohem organisatorischen und finanziellen Aufwandes auch bereits eintreten.

Eppendorfer Quartiersbüro MARTINIerLEBEN

Dem Eppendorfer Quartiersbüro MARTINIerLEBEN und den von den Beteiligten formulierten Anforderungen und Erwartungen an ein generationengerechtes Quartier galt das Interesse der Wiener Reisegruppe am Vormittag des zweiten Tages. In diesem sehr bürgerlichen und von Stiftungshäusern (für den Lebensabend von Hausangestellten, Dienstboten und anderen älteren Menschen mit geringster Altersversorgung errichtete Häuser ausgestattet mit Kleinstwohnungen) der reichen Hamburger Bürgerschaft geprägten Stadtteil hat sich eine Initiative – ausgehend unter anderem von einem bestehenden Kulturzentrum – gebildet, das die Bebauung von nicht mehr benötigten Grundstücken eines ehemaligen Krankenhauses mit den üblichen hochpreisigen Eigentumswohnungen verhindern wollte. Die Initiative begnügte sich jedoch nicht mit dem Verhindern fremder Pläne, sondern begann einen eigenen Planungs- und Vernetzungsprozess, der auf die lokalen Bedürfnisse und Eigenheiten bedacht nahm. Ziele des gesamten Prozesses sind die Einbindung möglichst vieler BewohnerInnen in den integrierten Prozess der Quartiersent-wicklung und die Gesetzwerdung des daraus entstehenden Bebauungsplanes. An den bereits abgehaltenen Planungswerkstätten nahmen rund hundert Bewohner-Innen aktiv teil und entwickelten Vorschläge basierend auf einem intergenerativen und sehr demokratischen Ansatz. Die Annahme der so entstandenen Pläne durch den Hamburger Senat ist noch offen und wird hoffnungsfroh erwartet.

Quartier St. Pauli

Nach der Mittagspause stand ein Rundgang durch das Quartier St. Pauli auf der Tagesordnung, wo vor allem die negativen Folgen der Stadtteilaufwertung – Gentrifizierung – thematisiert wurden. Denn viel stärker als in Wien sind BewohnerInnen in innerstädtischen Hamburger Quartieren auf mehreren Ebenen von Spekulation und Verwertung betroffen: Der Hamburger Wohnbau wird bevorzugt privaten TrägerInnen überlassen, Grundstücke werden an meistbietende Investor-Innen vergeben, die auf den attraktivsten Flächen Luxuswohnungen und Edelbüros zu horrenden Preisen errichten. Gleichzeitig baut die Freie und Hansestadt Hamburg wenige günstige Wohnungen, der geförderte Wohnungsneubau fällt im Unterschied zu Wien (6000 geförderte Wohneinheiten/Jahr) mit 300 geförderten Wohnungen
unterdotiert aus. Kombiniert mit einem System das Mietpreisbindungen innerhalb von maximal 15 Jahren auslaufen lässt, führt dies in ganz Hamburg zu einer Verviel-fachung der Mietpreishöhen und auf Quartiersebene zu existenzbedrohenden Verdrängungsprozessen.

Der Tag endete mit den Erinnerungen eines Aktivisten und Organisators von „Park Fiction“, einem Beispiel eines Beteiligungsprojektes im öffentlichen Raum, das aus einer massiven Protestbewegung gegen eine Hochhausbebauung – es wurde hier ein ganzer Stadtteil besetzt und mit Barrikaden gesperrt – an der St. Pauli Stadtkante zum Elbfluss hin entstand.

Baugruppen und Wohnprojekte

Baugruppen und Wohnprojekten war der letzte Exkursionstag gewidmet. Gemein-sam mit einer Vertreterin der zuständigen Behörde, einem Projektentwickler und einem Bewohner eines Wohnprojekts diskutierte die Gruppe die einzelnen Schritte der Realisierung. Von der Erstinformation zur Frage „Was ist überhaupt ein Wohnprojekt?“ über den Zugang zu Grundstücken, bis hin zum Wohnalltag in Gemeinschaft, wurden die gesetzlich-organisatorischen Vorgaben erörtert bevor es am Nachmittag zu einem realisierten Projekt in der Stresemannstraße 100 (Strese 100) ging. Hier wurde anhand eines selbstverwalteten Wohnprojektes gezeigt, wie das Baugruppenmodell selbst für sehr finanzschwache BauwerberInnen eine Möglichkeit bietet, zu hochwertigem Wohnraum zu kommen. Ein Bewohner zeigte den BesucherInnen seine private Wohnung und die Gemeinschaftsräume und erzählte vom gemeinsamen Planungsprozess, der von einem am Wohnprojekt beteiligten Architekten geleitet wurde. Er sprach über die Bauphase – Bauträgerin war eine junge Genossenschaft – bis hin zum gemeinsamen Wohnen, das als ein eigenes Projekt im Projekt dargestellt wurde. So ging der Besuch in Hamburg mit einem sehr persönlichen Zugang zur Wohnungsfrage zu Ende und hinterließ auch aus diesem Grund einen sehr nachhaltigen Eindruck.

Erkenntnisse

Seitens der GB*12 wurden die Führungen, Vorträge, Treffen und Diskussionen dokumentiert und weiterführende Informationen in diesem Bericht verarbeitet, um die gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen des Wiener Wohnbauforschungstages am 30. November 2011 diskutieren zu können.

Als ein wesentlicher kultureller Unterschied zwischen den Städten Wien und Hamburg sprang besonders ins Auge, dass Aushandlungsprozesse und auch Fortschritte auf der Ebene des Zusammenlebens sehr oft durch private Initiativen eingefordert und organisiert werden. Diese reichen von einfachen Petitionen und Beteiligungen an Planungsprozessen bis hin zu revoltenartigen Aufständen, wenn es für eine benachteiligte Bevölkerungsgruppe um viel bis alles geht.

Auch eine flächendeckende institutionalisierte Stadterneuerung bzw. ein Quartiersmangement, das in Wien durch die Gebietsbetreuungen Stadterneuerung getragen wird, ist in Hamburg nicht vorhanden. Überspitzt könnte man formulieren, dass in Wien Politik und Verwaltung die BewohnerInnen mit sehr vielen nieder-schwelligen Angeboten versorgen, während sie in Hamburg als Feuerwehr hinter den jeweils gerade entstandenen gesellschaftlichen Verwerfungen zu löschen versuchen. Anders gesagt geht Wien eher den typisch österreichischen Weg der Kooperation während in Hamburg die unterschiedlichen Interessen oftmals sehr intensiv in der Konfrontation aufeinander prallen.
Fakten
  • Projektträger
    GESIBA
  • Projektleitung
    GB*12
  • Team
    Hans Hinterholzer
    Elke Losert
    Teresa Lukas
    Wolfgang Stempfer
  • Laufzeit
    Juli 2011
  • Kontakt
    johann.hinterholzer[at]gbstern.at
  • Downloads
  • Abstract 147.25 KB
    Projektbericht 3.45 MB