Handbuch "Sicheres Bauen und Wohnen"

Ziel des Projekts

Theoretische Ansätze aus der Architekturtheorie, der Raumsoziologie und der Theorie der Sozialen Kontrolle wurden miteinander verknüpft und dienten im Forschungsprojekt als Basis für die Erstellung eines Handbuchs, welches Maßnahmen der sekundären Kriminalprävention in urbanen Wohnquartieren sinnvoll miteinander zu kombinieren versuchte.

Ziel des Forschungsprojektes war es, ausgehend von den theoretischen Konzepten einen Maßnahmenkatalog zu erstellen, der als Leitfaden für die Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten beim Bauen und Wohnen dienen soll. Nachbarschaften und ihre Raumproduktion dienten uns dabei als Untersuchungseinheiten, aus denen wir Vergemeinschaftungsprozesse und Elemente zur Stiftung von Kontrolle über den Raum der Nachbarschaft abgeleitet haben.

Zur Prüfung der raumsoziologischen Überlegungen erfolgte eine Bestandsaufnahme und Analyse von Best Practice Wohnmodellen, die besondere Nachbarschaftskonzepte umgesetzt haben. Aufbauend auf die Diagnose positiver Aspekte für die Stiftung sozialer wurden Empfehlungen zur Stärkung der Vergemeinschaftung sowie der sozialen Kontrollfunktion erarbeitet. Gestalterische, bau- und sicherheitstechnische Kriterien, welche von SicherheitsexpertInnen als grundlegend erachtet worden sind, ergänzten den Leitfaden.

Eine aus dem Projekt entstandene Broschüre für Wiens Wohnbevölkerung gibt Aufschluss über relevante technische und verhaltensorientierte Sicherheitsvorkehrungen. Der Folder "Sichere Nachbarschaft" steht auf unserer Homepage www.kfv.at zum Download bereit.

Eigenschaften des halböffentlichen Raums der Nachbarschaft

Der halböffentliche Raum der Nachbarschaft trennt den öffentlichen vom privaten Raum. Er nimmt dabei Eigenschaften beider Räume an, ohne aber auf sie rückführbar zu sein. Was ihn auszeichnet, ist gerade sein eigenständiger Charakter als "Zwischen-Raum". Man kann ihn als Grenzraum, als liminalen Raum (Schwellenraum) begreifen. Gemeinsame Grenzen werden in diesem Raum nach außen und gegeneinander verhandelbar. Die Möglichkeit von Dissens und Konflikt sind darin notwendigerweise enthalten. Diese Ausverhandlungsprozesse stellen erst Nachbarschaft als eine freie soziale Ordnung her.

Der halböffentliche Raum der Nachbarschaft lässt sich durch vier Haupteigenschaften charakterisieren, denen jeweils ein ambivalentes Verhältnis immanent ist:

  • Kontrollierbarkeit (vs. freie, unkontrollierbare Nutzung)
  • Abgrenzbarkeit (vs. Offenheit)
  • Personalisierbarkeit (vs. Anonymität)
  • Aneigenbarkeit (vs. bestehende Angeeignetheit)

Der halböffentliche Raum mit seinem liminalen Charakter zwischen Öffentlichkeit und Privatheit erzeugt diese Ambivalenzen.

Kontrollierbarkeit

Die Kontrollierbarkeit beziehen wir in diesem Zusammenhang auf die Überblickbarkeit einer räumlichen Situation. Der Raum wird als Sichtfeld definiert, das für seine NutzerInnen keine ungewissen Ereignisse zulässt. Sicherheit manifestiert sich räumlich in dem Gefühl der Vermeidbarkeit von Gefährdungen und Ungewissheiten, in der Kontrollierbarkeit von Ereignissen.

Abgrenzbarkeit

Wenn man halböffentlichen Raum als einen Zwischen-Raum versteht, der vom öffentlichen und vom privaten Raum abgegrenzt wird, gehört die Abgrenzbarkeit zu einer wichtigen Eigenschaft. Diese Abgrenzung wird durch Schwellen bewirkt, welche die Grenzen einerseits definieren, deren Überschreiten andererseits auch das Gefühl gibt sich in einem Raum mit spezifischen Aufenthaltsqualitäten zu befinden. Diese Schwellen haben einen regulierenden Charakter darüber, wer den Raum nutzen kann und wer nicht. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er öffentlich zugänglich ist, man aber dort personalisierbare Menschen antrifft, die man deutlich von "anderen" unterscheiden kann. Unter diesem Aspekt erscheint Raum nicht als Sichtfeld, sondern als Zone.

Personalisierbarkeit

Der halböffentliche Raum kann mit Personen identifiziert werden, zwischen denen ein Näheverhältnis besteht und die durch den Raum wiederum repräsentiert werden. Diese Zurechenbarkeit der fraglosen Aufenthaltsmöglichkeit an bestimmte Personen bedeutet, dass "Andere" ausgrenzbar werden, deren Aufenthalt der Rechtfertigung bedarf. Die Verwandlung des Raums in einen personalisierbaren Ort fördert Identifikation, lässt die Erfahrung von Stolz auf den eigenen Raum zu und veranlasst die BewohnerInnen zu Engagement.

Aneigenbarkeit

Die Raumaneignung ist ein Interaktionsprozess, der sich im physischen Raum materialisiert. Nachbarschaftsräume sind Produkte von Spacing-Prozessen und können durch Syntheseleistung zu solchen Einheiten zusammengefasst werden (Löw 2001).

In unserem Interpretationsrahmen ist der halböffentliche Raum ein Produkt der kollektiven Raumnutzung durch jene Personen, die gemeinsam eine Nachbarschaft konstituieren. Die jeweiligen Eigenschaften des halböffentlichen Raums stellen den Stand der jeweiligen Ausverhandlung der genannten Ambivalenzen dar.

Methodisches Design

Das Forschungsprojekt setzt sich in einem "mixed methods"-Ansatz aus drei methodischen Teilen zusammen:

  • Experteninterviews zu den Themen "Raumaneignung", "Sicherheitsplanung" und "Nachbarschaftskonflikte"
  • Gruppendiskussionen mit BewohnerInnen ausgewählter Wohnprojekte (mit besonderen Nachbarschaftskonzepten) zum Thema "Nachbarschaft"
  • Standardisierte, schriftliche Bewohnerbefragung

Als Kriterium für die Auswahl der Wohnprojekte bzw. deren BewohnerInnen als Untersuchungsobjekte wurde auf eine Vielfalt an unterschiedlichen Perspektiven von Nachbarschaftskonzeptionen Wert gelegt, also ob die Initiierung der Nachbarschaft durch den Bauträger ("von oben") erfolgte oder von den BewohnerInnen ("von unten") selbst eine Nachbarschaftsinszenierung geleistet worden ist.

Es wurden vier Wohnobjekte für den Vergleich der Nachbarschaftskonzepte ausgewählt: die "Sargfabrik" (und "Miss Sargfabik") in 1140 Wien, der "Globale Hof" in Wien 23, "Gemeinsam Wohnen in Simmering", 1110 Wien, sowie der Gemeindebau "Am Schöpfwerk" in 1120 Wien.

Zentrale Projektergebnisse

Die Empfehlungen der ExpertInnen, wie man sich vor Einbruchsdiebstahl effektiv schützen kann, bestehen aus einer Kombination situativ-technischer und verhaltensorientierter (individueller wie sozialer) Aspekte der Prävention. Die Maßnahmen müssen dabei die schwierige Balance zwischen Schutz und Einschränkung bzw. Komfort halten.

Neben den situativ-technischen Einrichtungen (zu denen u.a. eine Ö-Norm geprüfte Sicherheitstür ebenso gehört wie eine Alarmanlage eines zertifizierten VSÖ-VVO-Errichters) und individuellem Verhalten (wie das Kontrollieren, ob Fenster und Türen beim Verlassen der Wohnung geschlossen sind) sind es insbesondere soziale Maßnahmen, die objektiv und subjektiv die Sicherheit im Wohnumfeld erhöhen können. Dabei spielen die NachbarInnen als soziale Kontrollinstanzen eine wesentliche Rolle.

Aus soziologischer Sicht wird oft ein fehlendes Bewusstsein für die soziale Produktion von Sicherheit deutlich. BürgerInnen sollen nicht bloß in die Rolle von KonsumentInnen gedrängt werden, sondern sich auch in ihrer aktiven Rolle innerhalb der Produktion von Sicherheit begreifen. Die Stärkung nachbarschaftlicher Beziehungen ist eine der großen Herausforderungen, der man sich in der Präventionsarbeit stellen muss.

Konflikte und Missverständnisse

Es ist nicht immer einfach, in emotional aufgeladenen Situationen mit der notwendigen Professionalität zu reagieren, Streit als produktiv zu interpretieren und die Mischung aus Aneignung und Widerstand durch Konflikte als wichtiges Moment für Entwicklung zu deuten. Es hilft, wenn Nachbarschaften sich in Konfliktsituationen Rat und Hilfe holen können. Die Möglichkeit von Beratung sollte vor Ort neu geschaffen bzw. intensiviert werden und einer aktiven Bewerbung folgen. Dabei ist die soziale Kompetenz der MediatorInnen oder ExpertInnen einer aktivierenden Gemeinwesenarbeit eine wesentliche Voraussetzung für das Vertrauen in das Gelingen einer Strategieentwicklung zur Konfliktlösung.

Externe Unterstützungen sind auch insbesondere bei Konflikten, die sich aus den Kulturkontakten ergeben, hilfreich. Beispiele wie die Aktion des Vereins Bassena, der verschiedene Grußformen in der hauseigenen Zeitung abdruckte, könnten Schule machen. Dadurch wurde eine Schwelle überwindbar gemacht und das Grüßen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, das zuvor unterblieb, in den Alltag eingeführt. Solche Good Practice Beispiele könnten gesammelt und in anderen Kontexten ausprobiert werden.

Aktivierung als Gemeinwesenarbeit

Nachbarschaftsnetzwerke sind eine Ressource zur Konfliktbearbeitung, auf die man zurückgreifen kann. Beteiligungsprozesse durch Gemeinwesenarbeit können bei der Initiierung der Nachbarschaft über Aktivierungsmaßnahmen unterstützend wirken.

Nachbarschaften brauchen Repräsentation

Einerseits benötigen Nachbarschaften Räume, in denen sie sich selbst darstellen können und in denen nachbarschaftliches Leben zum Ausdruck kommen kann. Es geht also darum, aneigenbare Räume für die Entfaltung und die Darstellung von Nachbarschaft anzubieten. Dabei genügt es nicht, eine Betonfläche als Grillplatz für das Mieterfest zu definieren und zu hoffen, dass dieses trotz der wenig Anreiz bietenden Anmutung dafür Verwendung findet. Kleine Gesten wie die Schaffung ruhiger Plätze, die zum Verweilen einladen, können helfen. Andererseits brauchen Nachbarschaften Personen, die als repräsentative SprecherInnen gegenüber Hausverwaltungen auftreten können, damit Probleme in der Wohnanlage auch eine Stimme bekommen. Auch hier wollen wir anregen, für interessierte und engagierte Personen in Wohnanlagen Unterstützungsangebote bei der Durchsetzung von Mieteranliegen zu entwerfen.

Institutionalisierungsprozesse fördern

Damit ein Bewohner auch aufmerksam gegenüber der Wohnung seines Nachbarn ist, bedarf es eines guten Verhältnisses zu ihm. Will man soziale Nachbarschaftsstrukturen auf Dauer stellen, bedarf es institutioneller Strukturen. Investitionen in die Schaffung von Institutionen sind daher besonders effektiv und nachhaltig. Eine gemeinsame Hausordnung macht Sinn, will man ein gewisses Maß an Homogenität im Alltagshandeln erreichen. Diese Regeln werden von BewohnerInnen jedoch besser angenommen, wenn sie sich diese selber aufstellen. Hausordnungen sollten daher ein Produkt von Mieterversammlungen sein.

Die Idee der Anpassung anderer Kulturen an die geltenden Regeln und Normen ist ebenfalls ein Problem, dass in diesem Rahmen verhandelt werden muss. Die Forderung nach Anpassung bedeutet, die Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit anderer kultureller Praktiken nicht zu respektieren. Hier müsste interkulturelle Institutionen schaffen, die zwar keine Homogenisierung der Gruppen versprechen sollen, aber dafür eine Brücke schlagen können. Dafür ist so etwas wie ein "dritter Ort" (third space), jenseits von "Mein" und "Dein", von "Selbst" und "Anderem", von "Wir" und "Die" notwendig. Interkulturelle Institutionen können unterstützen, die eigene Identität zu verändern, ohne in die Angst vor dem Verlust des eigenen Selbst zu verfallen.

Mieterfeste und ähnliche institutionalisierte Ereignisse haben oft mit dem Problem zu kämpfen, dass die Arbeit an einigen Wenigen hängen bleibt. Das sorgt für Frustration und führt manchmal dazu, dass bei wenig Resonanz in der Bewohnerschaft diese Institution wieder aufgegeben wird. Hier könnten BauträgerInnen unterstützend eingreifen, Feste mitfinanzieren und durch personelle Hilfe unterstützen. Ein Mieterfest muss ein Fest von BewohnerInnen für BewohnerInnen bleiben, aber ein wenig Entlastung und Unterstützung in Vorbereitung, Bewerbung etc. könnte InitiatorInnen ermutigen, sich weiter zu engagieren.

Ambivalenz muss artikulierbar sein

Wir haben die Ambivalenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen Personalisierung und Anonymisierung als elementare Bestimmungsmomente des halböffentlichen Raums der Nachbarschaft kennen gelernt. Da diese Ambivalenzen für den nachbarschaftlichen Raum konstitutiv sind, können sie nicht ein für alle Mal gelöst werden, sondern nur von Fall zu Fall bearbeitet werden. Allerdings sollten sie auf jeden Fall eine Bearbeitung finden, da sonst jene stille Unzufriedenheit über unabänderliche Situationen in den Wohnbau einzieht, der wir manchmal auch bei den Gruppendiskussionen begegnen mussten. In Wohnanlagen sollten daher Möglichkeiten geschaffen werden, diese Ambivalenzen zu besprechen und Entscheidungen finden zu können, etwa wie viel Offenheit zumutbar erscheint und wie viel Geschlossenheit notwendig, wie viel persönliches Engagement genügt und wie viel Anonymität MieterInnen wünschen. Auch dafür bedarf es institutionalisierter Möglichkeiten der Bearbeitung und der Darstellung.
Fakten
  • Projektträger
    Kuratorium für Verkehrssicherheit,
    Bereich Eigentum & Feuer
  • Projektleitung/Bearbeiter
    Iris Schirl
    Christopher Schlembach Matthias Gaderer
    Birgit Zetinigg
  • Laufzeit
    März bis Dezember 2007
  • Kontakt
    birgit.zetinigg[at]kfv.at
  • Downloads
  • Abstract 413.96 KB
    Projektbericht 1.84 MB