Mitbestimmung im Wohnbau. Eine Studie über Motive und Erwartungen von BewohnerInnen in geförderten Wiener Wohnbauten mit Mitbestimmungsmöglichkeiten.

In dieser Studie wird die in den letzten Jahren wieder häufiger angebotene und auch immer stärker nachgefragte Partizipation von (zukünftigen) BewohnerInnen bei der Planung und Gestaltung ihres Wohnraums in vier Objekten des geförderten Wohnbaus in Wien untersucht. Dabei liegt der Fokus auf den Erwartungen, den Einzugsmotiven und den Zielgruppen von an Mitbestimmungsprojekten Interessierten. Auch die Wahrnehmung und Bewertung des Mitbestimmungsprozesses durch die (zukünftigen) BewohnerInnen ist Thema der Studie.

Die Untersuchung wurde im Zeitraum September 2013 bis Dezember 2013 durchgeführt und legt den Fokus auf drei Projekte, die im Vergleich zu Baugruppen einen geringeren Selbstorganisationsgrad von den zukünftigen BewohnerInnen verlangen, jedoch sehr wohl Flexibilität und Mitsprachemöglichkeiten in der Wohnraumgestaltung und -planung zulassen.




Untersuchte Wohnbauten:
  1. so.vie.so Sonnwendviertel
  2. join in Mautner Markhof
  3. Jakov-Lind-Straße Nordbahnhof
  4. Grellgasse Gerasdorfer Straße

Hauptziele der Studie:
1) die Evaluation von drei Mitbestimmungsprojekten hinsichtlich ihrer Zielgruppen, der Einzugsmotive, Erwartungen und Wünsche in Bezug auf Wohnraumgestaltung und -planung durch die BewohnerInnen und
2) das Ziehen von Schlussfolgerungen aus diesen Erkenntnissen für die zukünftige Wohnraumplanung sowie für BauträgerInnen, BeteiligungsmanagerInnen und die Wohnbauförderung.

Methode:
  • Literaturrecherche
  • Dokumentenanalyse
  • Teilnahme an Treffen und Begehungen vor Ort
  • ExpertInneninterviews (mit ExpertInnen der Bauträger, der Planung, des Beteiligungsmanagements und des Wohnservice Wien)
  • Sekundäranalyse von InteressentInnen-Daten des Wohnservice Wien
  • Online-Befragungen von BewohnerInnen
  • Qualitative Interviews mit BewohnerInnen

Ergebnisse der Evaluation
Interesse an Mitbestimmung
Das generelle Interesse an Mitbestimmung – insbesondere an wohnungsbezogener Mitbestimmung – ist sowohl bei den Befragten des Wohnservice als auch der untersuchten Wohnbauten sehr hoch, wobei klarerweise Personen, die einen Mitbestimmungsprozess durchlaufen und sich für einen Wohnbau mit Mitbestimmungsmöglichkeiten angemeldet haben, interessierter sind als beim Wohn-service angemeldete InteressentInnen. Fast alle BewohnerInnen (93%) sind an Mitbestimmung bei der Planung der Wohnung sehr/eher interessiert, 69% an Mitbestimmung bei der Planung der Ge-meinschaftsräume- und Freiflächen. Da das Interesse sogar im Laufe des Prozesses zugenommen hat, ist davon auszugehen, dass der Mitbestimmungsprozess für die Mehrheit der Befragten der bei-den Wohnbauten kein frustrierendes, den Wert von Mitbestimmung im Wohnbau in Zweifel ziehen-des Erlebnis war. Das Interesse an Selbstorganisation der BewohnerInnen, also an BewohnerInnen-treffen sowie an der Verwaltung und Nutzung der Gemeinschaftsräume und Freiflächen, ist ebenso stark ausgeprägt (jeweils ca. 2/3 der Befragten geben hier Interesse an). Für letzteres interessieren sich etwa gleich viele Personen wie für die Mitbestimmung bei der Planung derselben Bereiche. An der Mitbestimmung bei der Planung der Wohnung waren signifikant häufiger Befragte ab 40 Jahren und Menschen, die in Österreich geboren wurden interessiert; an der Mitbestimmung bei Gemein-schaftsräumen und Freiflächen Befragte zwischen 40 und 49 Jahren.

Mitbestimmung als Einzugsgrund
Wenig überraschend erweisen sich Mitbestimmungsmöglichkeiten innerhalb der quantitativen Erhe-bung weder als der häufigste noch als der wichtigste Grund für die Befragten, um in einen Wohnbau einzuziehen. Dies zeigt sich auch in anderen Studien über Mitbestimmung. Zentraler sind „Push-Faktoren“ der alten Wohnung/Wohnumgebung (geringe Größe oder Höhe der Kosten der alten Wohnung), gefolgt von den bei allen Wohnbauten sehr häufig genannten Verkehrsverbindungen der neuen Wohnumgebung. Dennoch wird die Möglichkeit mitzubestimmen insgesamt schon am dritt-häufigsten als Einzugsgrund genannt und immerhin von 30% der Befragten unter die drei wichtigs-ten Einzugsgründe gereiht. Hier gibt es allerdings signifikante Unterschiede nach Wohnbau: So geben über die Hälfte der Befragten der Wohnbauten so.vie.so und join in Mitbestimmung generell als Einzugsgrund, jedoch nur knapp ein Drittel der Befragten des Wohnbaus Jakov-Lind-Straße. Noch deutlicher sind diese Unterschiede hinsichtlich der drei wichtigsten Einzugsgründe: Insgesamt 43% der Befragten des Wohnbaus so.vie.so und 38% des Wohnbaus join in nennen Mitbestimmung als zweit- und/oder drittwichtigsten Grund – allerdings niemand der Befragten des Wohnbaus Jakov-Lind-Straße. Insgesamt gaben signifikant häufiger Befragte ab 40 Jahren und Befragte, denen Nachbarschaft wichtig ist, Mitbestimmung als einen Einzugsgrund an. Als vorrangiger Einzugsgrund wurde Mitbestimmung vor allem von Befragten mit Fachschul-/Handelsschulabschluss und Hochschulabschluss genannt.

Beteiligung an Mitbestimmung
Nach den Wohnbauten betrachtet beteiligten sich die BewohnerInnen von so.vie.so am häufigsten an der Mitbestimmung bei der Planung der Wohnung. Bei der Planung der Gemeinschaftsräume und Freiflächen brachten sich insbesondere BewohnerInnen des Wohnbaus join in ein. Während über drei Viertel der Befragten des Wohnbaus so.vie.so an mindestens einer der angebotenen Veranstaltungen teilnahmen, trifft dies auf einen Anteil von 56% der Befragten des Wohnbaus join in zu (für den Wohnbau Jakov-Lind-Straße liegen hier keine Daten vor). An der Mitbestimmung bei der Planung der Wohnung nahmen signifikant häufiger Personen mit Matura oder Hochschulabschluss teil; an der Mitbestimmung bei der Planung der Gemeinschaftsräume und Freiflächen Personen mit Fachschul-/Handelsschulabschluss oder Hochschulabschluss sowie Haushalte mit Kin-dern/Jugendlichen. Betrachtet man die Gründe für die Nicht-Teilnahme an den drei Phasen, erweist sich vor allem der zu späte Einstieg in den Mitbestimmungsprozess als relevant. Besonders bei der Planung der Wohnung ist dies der Hauptgrund, warum sich die Befragten nicht beteiligten. Gleichzeitig spielen auch die zeitlichen Ressourcen der BewohnerInnen eine große Rolle dabei, ob sie an den unterschiedlichen Prozessen teilnehmen.

Umsetzung der Mitbestimmungsmöglichkeiten
Viele der BewohnerInnen äußern in den qualitativen Interviews, dass sie im Vorfeld der Wohnungsplanung vor allem konkrete Vorstellung dazu hatten, wo ihre Wohnung im Wohnbau angesiedelt sein sollte. Gleichzeitig bestanden bereits Vorstellungen zu gewissen Details wie Bodenbelägen oder Ba-dezimmerausstattung. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Aufforderung sich mit eigenen Vorstellungen und Wünschen auseinanderzusetzen und verschiedene Optionen durchzudenken. Grundsätzlich gibt der Großteil der Befragten aller drei Wohnbauten an, im Wohnungskatalog einen Wohnungstyp ge-funden zu haben, der ganz den jeweiligen Wünschen entsprach. Dennoch wurden in den drei Wohnbauten verschiedene Möglichkeiten genutzt, Änderungen vorzunehmen. Im Hinblick auf die Gründe, warum die dargestellten Änderungen vorgenommen wurden, erweisen sich vor allem die optimale Nutzung von Flächen und ästhetische Ansprüche als zentrale Punkte. Gleichzeitig wurden viele Änderungen auch umgesetzt, um die technische Infrastruktur und Ausstattung an die jeweiligen Bedürf-nisse anzupassen. Die qualitativen Interviews zeigten auf, dass durch die bisher mangelnde Erfahrung bei der Planung von Gemeinschaftsbereichen insgesamt große Zurückhaltung in der Artikulation von Vorstellungen und Wünschen in diesem Bereich herrschte. Erst wo gemeinschaftliche Prozesse der Mitbestimmung zu diesen Bereichen ermöglicht wurden, konnten sich die BewohnerInnen genauer mit diesen auseinandersetzen und konkrete Planungsideen zu entwickeln. Die Gemeinschaftsbildung erfolgte laut Beobachtung der ExpertInnen in den Wohnbauten so.vie.so und join in schrittweise im Zuge der laufenden Treffen vor dem Einzug und wurde von den jeweils zuständigen Beteiligungsma-nagerInnen unterstützt. Innerhalb des Wohnbaus Jakov-Lind-Straße erfolgt der Prozess der Gemein-schaftsbildung weniger ausgeprägt und zeitlich dem Einzug nachgestellt.

Weiterführende Mitbestimmungswünsche
Im Vergleich zu anderen Mitbestimmungsbereichen werden die meisten Wünsche bezüglich der Planung und Ausstattung der Wohnung genannt, was angesichts der höheren Intensität des diesbezüg-lichen Mitbestimmungsprozesses bzw. der Gestaltung des individuellen Nahraums nicht verwunderlich ist. Interessant ist, dass bei allen drei Wohnbauten auch Mitbestimmungsmöglichkeiten genannt wurden, die zwar prinzipiell angeboten wurden, jedoch manchmal aufgrund baulicher und architek-tonischer sowie zeitlicher bzw. organisatorischer Gründe nicht allen Haushalten zur Verfügung standen. Deutlich weniger häufig als bezüglich der Planung und Ausstattung der Wohnung werden insgesamt Wünsche bezüglich der Planung, Ausstattung, Nutzung bzw. Gestaltung der Gemeinschaftsräume und der Freiflächen geäußert. Hier werden die Unterschiede in den Mitbestimmungsmöglichkeiten zwischen dem Wohnbau Jakov-Lind-Straße und den anderen Wohnbauten besonders deutlich: Die Befragten äußern hier vor allem den Wunsch überhaupt mitbestimmen zu können und den Wunsch nach besserer Kommunikation der Mitbestimmungsmöglichkeiten.

Bewertung der Mitbestimmungsprozesse
Die Information zur Planung der Gemeinschaftsräume und Freiflächen wurde von 81% der Befrag-ten des Wohnbaus so.vie.so, 71% der Befragten des Wohnbaus join in, jedoch nur 11% der Bewohne-rInnen des Wohnbaus Jakov-Lind-Straße als ausreichend beurteilt. Auch bei der Bewertung der In-formation zur Planung der Wohnung zeigen sich vor allem die BewohnerInnen des Wohnbaus Jakov-Lind-Straße unzufrieden. Hier spielt vermutlich die in diesem Wohnbau anders und weniger intensiv als in anderen Wohnbauten organisierte Mitbestimmung eine Rolle. Die Erhebung zeigt, dass sich die BewohnerInnen des Wohnbaus so.vie.so über Mitbestimmung nach dem Einzug vergleichsweise am besten informiert fühlen. Dies hängt vermutlich mit der Intensität und Art der Organisation der Be-wohnerInnen nach dem Einzug zusammen. Die Bewertungen aller Befragten zeigen, dass die Mitbestimmungsprozesse – zumindest durchschnittlich – in mehreren Aspekten als eher positiv wahrgenommen wurden. Dass Mitbestimmungsprozesse eher als langsamer (Tendenz zur neutralen Bewertungen beim Begriffspaar langsam/schnell) empfunden werden, liegt wohl daran, dass Mitbestimmung Zeit braucht bzw. mehr Aufmerksamkeit von Seiten der zukünftigen BewohnerInnen verlangt als konventioneller Wohnbau. Die Tendenz zur Bewertung „verständlich“ bei allen drei Wohnbauten deutet darauf hin, dass in allen Fällen eher klar war, wie etwa die Mitbestimmungsprozesse ablaufen würden bzw. was von den BewohnerInnen als Eigenleistung verlangt würde. Der Mitbestimmungsprozess im Wohnbau so.vie.so wird im Vergleich zu den anderen Wohnbauten am positivsten bewertet (insbesondere hinsichtlich Motivation und Organisation).

Als zentrale Kompetenzen, die BewohnerInnen für einen Mitbestimmungsprozess benötigen, erwiesen sich:
1) Offenheit, Kompromissbereitschaft, Toleranz, Interesse, Fragen stellen sowie
2) räumliche Vorstellungskraft, Lesen von Plänen, Orientierungsvermögen.

Der Mitbestimmung sind entsprechend der Meinung der ExpertInnen jedoch auch Grenzen gesetzt durch:
1) Kosten bzw. einen vorgegebenen Budgetrahmen,
2) Technik und Statik,
3) die spätere Wiederverwertbarkeit der Wohnungen und
4) gesetzliche Vorschriften in der Bauordnung.

Andererseits werden die Grenzen je nach
1) persönlicher Haltung der ExpertInnen,
2) der jeweiligen Bereitschaft und Offenheit sich auf den Mitbestimmungsprozess einzulassen und auch
3) der jeweiligen Rolle und Verantwortung von Seiten der ExpertInnen früher oder später gezogen.

Zusammenfassend liegt der allgemeine Wert von Mitbestimmung in einem verringerten Konfliktpotential zwischen Bauträger und BewohnerInnen sowie einer stärkeren Identifikation mit der unmittelbaren Wohnumgebung. Weiters fördert Mitbestimmung die Beziehungen zwischen den BewohnerInnen eines Wohnbaus. Mitbestimmung im Wohnbau kann nicht nur im kleinen Rahmen zur Erfüllung von Wohnträumen beizutragen, sondern sie ermöglicht es in einer Stadt wie Wien auch, unterschiedliche Bedürfnisse verschiedenster BewohnerInnen zu erfüllen.

Schlussfolgerungen für zukünftige Wohnraumplanung
Aufbauend auf den Ergebnissen wurden direkte/indirekte Handlungsempfehlungen an die Wohnbaupolitik abgeleitet, die sich auf die folgenden Themenbereiche beziehen:
1) Rahmenbedingungen zur Einreichung und Planung von Projekten,
2) Vernetzung, Austausch und Information zu Mitbestimmung,
3) Organisation von Mitbestimmungsprozessen,
4) Haltung gegenüber BewohnerInnen bzw. Rollendefinition professioneller AkteurInnen,
5) Kommunikation,
6) Mitbestimmung bei der Planung der Wohnung,
7) Mitbestimmung bei Gemeinschaftsräumen/Freiflächen und
8) weiterer Forschungsbedarf.

Insgesamt zeigt sich, dass Mitbestimmung im Wohnbau zukunftsträchtig und umsetzbar ist. Nutzt man das Potenzial sinnvoll, so können Prozesse vereinfacht und kann Mehraufwand reduziert werden.
Fakten
  • Projektträger
    ÖIN - Österreichisches Institut für nachhaltige Entwicklung
  • Projektteam
    Michaela Leitner
    Sylvia Mandl
    Anja Christanell
    Elisabeth Sophie Mayrhuber
    Helene Schabasser
  • Laufzeit
    September – Dezember 2013
  • Kontakt
    ÖIN – Österreichisches Institut für Nachhaltige Entwicklung
    Lindengasse 2/12, 1070 Wien
    office[at]oin.at
  • Downloads
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    Abstract (Englisch) 519.38 KB
    Projektbericht 3.63 MB