HIGH LIFE: Das Hochhaus als urbane Wohnform

Die IG Architektur wurde Ende 2012 von der MA 50 mit der Planung und Durchführung einer Veranstaltung / Studie mit dem Titel „HIGH LIFE: Das Hochhaus als urbane Wohnform“ beauftragt. Basis dafür war ein Gespräch zur Auftragsklärung am 13. November 2012 im Büro von Stadtrat Ludwig.

Die Veranstaltung wurde geplant von einem Research- und Redaktionsteam, bestehend aus IG Architektur Mitgliedern, das sich in Folge sechsmal getroffen hat. Ergebnis war die Festlegung von inhaltlichen Rahmenbedingungen, gekennzeichnet durch folgende Themenfelder:
  1. Wohnhochhäuser und Urbanität
  2. Wohnhochhäuser und ökonomische Aspekte
  3. Wohnhochhäuser und ökologische Aspekte
  4. Wohnhochhäuser und soziale Aspekte
  5. Wohnhochhäuser: der Wiener Maßstab
  6. Wohnhochhäuser und ihre NutzerInnen

Angesichts des knappen Zeitplans wurden noch im Jahr 2012 ExpertInnen zu den oben angeführten Themenfeldern eingeladen. Zugesagt haben im Januar 2013
  1. George Wagner (University of British Columbia, Canada)
  2. Stefano Boeri (Stefano Boeri Architetti, Italien)
  3. Philippe Vassal (Lacaton & Vassal, Frankreich)
  4. Wiel Arets (Wiel Arets Architects, Niederlande)

Anschließend fanden drei weitere Arbeitssitzungen zum inhaltlichen Ablauf, und Briefing (mündlich, schriftlich) der ExpertInnen statt.

Die Veranstaltung selber fand am 5. März 2013, von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr im Architekturzentrum Wien, Podium, statt und war eingebunden in das Programm der Wohnbaufestwochen 2013. Die Veranstaltung wurde von insgesamt ca. 220 Personen besucht.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Matthias Finkentey (Organisatorischer Leiter IG Architektur), Architektin Marion Gruber (Sprecherin IG Architektur) und Dr. Wolfgang Förster (Wiener Wohnbauforschung, MA 50) und einem einleitenden Statement von Architekt Christian Kronaus (Vorsitzender IG Architektur) gab es vier Vorträge der angereisten ExpertInnen und eine anschließende Diskussion, geleitet von Architekt Mark Gilbert.

Stefano Boeri - Wohnhochhaus & Grünraum am Beispiel Mailand
Das erste Beispiel befasste sich mit dem innovativen Zusammenspiel von vertikaler Dichte und hochwertigem Grünraum anhand eines Projektes in Mailand.
Stefano Boeri präsentierte Bosco Verticale/Vertikaler Wald. Bosco Verticale versucht, dicht bewohnte Wohnblöcke mit Bewaldung innerhalb der Stadt zu bauen.
Das erste Beispiel eines solchen Gebäudes wird zur Zeit in Mailand im Stadtteil Porta Nuova Isola errichtet, als Teil eines umfangreicheren Sanierungsprojekts, mit zwei Türmen von 80 und 112 Meter Höhe, die 480 mittelgroße/große, und 250 kleinere Bäume halten werden, sowie 11.000 Bodenpflanzen und 5.000 Büsche und Sträucher (dies entspricht ca. einem Hektar Wald). Bosco Verticale basiert auf einem Architekturkonzept, das urbane Gebiete entmineralisiert und die sich verändernden Formen von Blättern für die Fassaden nutzt, und dadurch die Aufgabe der Feinstaubaufnahme der Luft direkt an die Vegetation weitergibt, genauso wie die Aufgabe der Herstellung eines adäquaten Mikro-Klimas, um das Sonnenlicht  auszufiltern.
Diese Art biologischer Architektur weigert sich, eine rein technologische und mechanische Haltung zur Umweltverträglichkeit einzunehmen.

Jean Philippe Vassal - Wohnhochhaus & Bestandserweiterung /Renovierung
Das zweite Beispiel thematisierte den behutsamen Umgang mit bestehenden Hochhausstrukturen, ihrem Upgrade und ihre Erweiterungspotentiale in Paris.
Laut Jean Philippe Vassal bedeutet Wohnen, über das Funktionelle hinaus, auch Freude, Großzügigkeit, und die Freiheit, einen Raum einzunehmen. Die Planung von Architektur auf Basis einer Idee des Bewohnens führt zur Raumkonstruktion von innen heraus, und nicht von außen als ein äußerer und distanzierter Akt. Der Raum zum Leben muss großzügig sein, bequem, adaptierbar, flexibel, luxuriös und bezahlbar. Die Wohnung muss den BewohnerInnen Möglichkeiten zur Bewegung bieten, zum Einnehmen des Raumes, zur freien Nutzung, um Möglichkeiten zur Entwicklung und Interpretation zu generieren. Zum Standard muss noch Raum hinzugefügt werden – innerhalb des gleichen Budgets, das Doppelte, das mehr Freiheiten und Freude ermöglichen wird, genauso wie eine intelligente Klimakontrolle. Eine Wohnung muss die gleiche Qualität an Freiheit und Komfort erlangen wie ein Eigenheim; auf jeder Etage muss es ein Pendant zu einem Garten geben, so dass man von innen nach außen gelangt. Das Konzept von villas, übereinanderliegenden Häusern mit Gärten, muss für den urbanen Kontext noch einmal überdacht und großflächig entwickelt werden.Die Erhöhung der Bebauungsdichte in bestimmten Stadtteilen ist notwendig. Sie erlaubt die großzügige Erweiterung individuellen Lebensraums, neue BewohnerInnen, die Verringerung von Entfernungen und Arbeitswegen, das Multiplizieren von Möglichkeiten, Serviceangeboten, Freizeitaktivitäten und Infrastruktur. Die Gebäude überlagern sich, sind miteinander verwoben, berühren sich gegenseitig mit großer Präzision. Geschosse werden multipliziert. Erhöhte Dichte bedeutet nicht Einengung sondern mehr Raum und Möglichkeiten für die/den Einzelne/n auf reduziertem Gelände.
All dies trifft auf Neubauten zu, aber auch auf Umbauten und die Verbesserung bereits
existierender Gebäude.

Wiel Arets - Wohnhochhäuser & städtebauliche Akzentuierung
Das dritte Beispiel thematisierte die potentielle, städtebauliche Performance von Wohnhochhäusern anhand eines Projekts in Rotterdam.
Wiel Arets interessiert, wie ein Gebäude in Wechselwirkung zur Stadt steht, wie es diese verändert oder welche Auswirkung die Hülle und das Programm eines Gebäudes auf eine Stadt haben. Wenn man von urbanem Lebensraum spricht, ist für Arets das Szenario der fundamentale Aspekt der Stadt. Im internationalen Vergleich zwischen Großstädten versucht Arets gleichzeitig die Metropole neu zu denken. Die Welt rückt zusammen, wodurch sich Fragen nach dem Maßstab, nach der Dynamik unserer sich verändernden Ansprüche, und den Auswirkungen technologischer Innovationen auf eine globalisierte Welt ergeben. Laut Arets wird in der Zukunft die strukturelle Diversität der Gleichheit vorgezogen.
In der Wechselwirkung zwischen Stadt, Gebäude und Programm spielt die Ortsgebundenheit des Gebäudes eine entscheidende Rolle. Dem Erdgeschoss und der Beziehung zu seiner Umgebung wird mindestens ebenso viel Bedeutung zugeschrieben, wie dem ikonischen Charakter eines Hochhauses. Die Fassade ergibt sich für Arets aus den Bedingungen der Umgebung, wie Wind und Akustik und weniger aus rein formal ästhetischen Überlegungen.
Neben der ökologischen und technischen Herausforderung von Null-Energie-Gebäuden steht die Hybridisierung des Programms im Mittelpunkt. Monoprogrammatische Gebäude seien nicht nur zu vermeiden, Arets empfindet diese als geradezu besorgniserregend. Prinzipiell sei es illusorisch, dass ein Gebäude jede erdenkliche Funktion erfüllen könne, dennoch sollte es möglich sein, in ein und demselben Gebäude langfristig zu leben, temporär zu wohnen, großzügig oder auf kleinem Raum zu arbeiten oder Freizeit zu verbringen, wobei die Gebäude auch in 50 Jahren noch immer angemessen nutzbar sein könnten, aufgrund ihrer programmatischen Flexibilität.

George Wagner - Wohnhochhäuser & Urbanismus am Beispiel Vancouver
Am Schluss wurde die Performance von Wohnhochhäusern verstärkt aus einem gesamturbanistischen Blickwinkel am Beispiel von Vancouver betrachtet.
Vancouver als Best-Practice-Beispiel scheint vor allem deshalb interessant, weil es in der Mercer Studie, die eine Bewertung der Lebensqualität bestimmter Metropolen vornimmt und in der Wien den Spitzenplatz belegte, ebenfalls sehr weit vorn landete, das Stadtgefüge urbanistisch aber viel stärker auf Wohnhochhäusern aufgebaut ist.

Wichtige Aspekte der anschließenden Diskussion
Themen- und Lösungsvorschläge für die neue Metropolis wurden diskutiert. Mit dem stetigen Bevölkerungswachstum geht ein Rückgang der Natur und Landschaft einher, verstärkt wird dieses Problem durch Zersiedelung und durch den Ausbau verkehrsbezogener Infrastruktur.
Für Arets ist Tokio ein hervorragendes Beispiel für funktionierende Nachbarschaft und gegenseitigen Respekt in einer Megacity.
Vor allem Arets und Jean-Philippe Vassal propagierten bezahlbares Wohnen für alle Einkommensschichten.
Raumhöhen von drei Metern bieten die Möglichkeit einer flexiblen Nutzung, so dass die Gebäude auch langfristig nutzbar sein können. Es wäre höchst unökonomisch, wenn weniger als diese drei Meter zur Verfügung stünden. In den Niederlanden stehen 1.900.000 m² Wohnfläche leer, weil die Raumhöhe zu niedrig ist, um die Räume flexibel und angepasst verwenden zu können.
Monoprogramme im Wohnbau erscheinen höchst problematisch, da sie in ihrer Grundstruktur nur für eine Nutzung gedacht wurden. Durch die Vernetzung von Wohnbau mit Gemeinschaftsflächen könnten Synergien mit der öffentlichen Hand entstehen, wodurch Kosten geteilt werden können, was sich wiederum auf den Miet- oder Kaufpreis günstig auswirken kann.
Prinzipiell wurde diskutiert, weniger singuläre Projekte zu planen, die von ihrer Umgebung entkoppelt sind. Vieles soll zu Fuß erreichbar sein. Gegenwärtige und zukünftige Attraktoren sind nicht mehr der Konsum, da das meiste im Internet bestellt werden kann. Immer wichtiger wird der Faktor Bildung für eine Stadt.
Vancouver solle laut Diskussion nicht als Beispiel für eine gelungene Hochhausstadt dienen, vielmehr sollten Fragen gestellt werden wie: „Was wollen die Wiener und wie wollen sie leben?“
Fakten
  • Projektträger
    IG Architektur im Auftrag der Stadt Wien
  • Projektteam
    Mark Gilbert (trans-city)
    Mario Paintner (feld72)
    Christian Kronaus (Architekt Kronaus)
    Markus Kaplan (BWM)
    Bruno Sandbichler (Gharakhanzadeh-Sandbichler)
    Norbert Grabensteiner (department west)
    Matthias Finkentey (ig architektur, Organisation)
    Ulrike Kahl (ig architektur, Organisation, PR)
  • Laufzeit
    November 2012 – März 2013
  • Kontakt
    organisation[at]ig-architektur.at
  • Downloads
  • Abstract 78.94 KB
    Projektbericht 2.85 MB