Gemeinschaftliches Wohnen in Wien – Bedarf und Ausblick

Gesellschaftliche Relevanz
In jüngster Zeit lässt sich in Österreich ein zunehmender Trend zu mehr Selbstbestimmung und Sehnsucht nach Gemeinschaft erkennen. Gründe dafür liegen in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft hinsichtlich der Lebensphasen, des Begriffs der Arbeit, aber auch der Fürsorge. Neben Food-Coops, Community-Gärten und kooperativen Arbeitsformen sind die immer beliebter werdenden gemeinschaftlichen Wohnformen ein Indiz dafür. Auch immer mehr ältere Menschen wollen gemeinschaftlich und solidarisch leben und sich auf diesem Wege verstärkt in die Gesellschaft einbringen.

Internationaler Trend
In Deutschland, in den skandinavischen Ländern, sowie in Holland, England, Schottland und der Schweiz, als auch in den USA, Japan und Korea gibt es bereits viele Beispiele und Formen gemeinschaftlichen Wohnens. Erfahrungsaustausch findet auf  internationaler Ebene bei Konferenzen wie der 1. Collaborative (Co-)housing Konferenz  in Stockholm im Jahr 2010 statt, auf nationaler Ebene wie in Deutschland im Rahmen regelmäßig abgehaltener Veranstaltungen in Hamburg, Berlin, München und vielen weiteren Städten.

Gemeinschaftliches Wohnen in Wien
Gemeinschaft spielt auch im geförderten Wiener Wohnbau eine große Rolle. Das historische Bestandsspektrum reicht von den Gemeindebau-Superblocks des „Roten Wien“ und den zeitgleich entstandenen Selbstbausiedlungen der Siedlerbewegung über die Genossenschaftsbauten der Nachkriegszeit und die Hochphase der Mitbestimmungsprojekte in den 1970er und 80er Jahren. Seit den 2000er Jahren ist eine Avantgarde selbstbestimmter und selbstinitiierter „Bottom-Up“ Baugemeinschaften zu bemerkbar. Durch die Einführung des Beurteilungskriteriums der „sozialen Nachhaltigkeit“ in den Bauträgerwettbewerben und das Bestreben der Wohnbaupolitik, verstärkt leistbares Wohnen zu fördern, treten Formen gemeinschaftlichen Wohnens auch im Rahmen der „Top-Down“-Projekte stärker in Erscheinung.

Aufbau und Zielsetzung der Studie
Bei thematisch einschlägigen Veranstaltungen, Ausstellungen und Besichtigungen bestehender gemeinschaftlicher Wiener Wohnprojekte zeigt sich das große Interesse für diese Wohnform in der Wiener Bevölkerung. Wartelisten für neue derartige Projekte sind schnell voll. Aber ist das  repräsentativ für ganz Wien? Und auf welche Weise lassen sich die bereits umgesetzten, vereinzelten Projekte als eigene Wohnform anerkennen? Was ist überdies notwendig, um sie aus dem Status des Experiments zu einer neuen Facette des Wiener Wohnbaus zu erheben?
Um diese Fragen beantworten zu können, wurde in der Studie „Gemeinschaftliches Wohnen – Bedarf und Ausblick“ zunächst eine Bestandserhebung vorliegender Projektbeispiele durchgeführt. Ziel war, das Spektrum des Angebotes und die zu Grunde liegenden gesetzlichen und fördertechnischen Rahmenbedingungen einzugrenzen. Parallel dazu wurde eine Bedarfserhebung in Kooperation mit dem Österreichischen Gallup Institut durchgeführt, um die Einstellung in der Bevölkerung zu gemeinschaftlichem Wohnen zu erfassen. Aufbauend auf diesen Ergebnissen und ergänzt durch Gespräche mit ExpertInnen sowie einem Workshop, wurden Handlungsempfehlungen erarbeitet. Diese sehen punktuelle Anpassungen der Rahmenbedingungen vor, um die Umsetzung und die langfristige Nutzbarkeit gemeinschaftlicher Wohnformen unterschiedlicher Art zu ermöglichen und sicher zu stellen.

Grundlagenerhebung

Begriffsbestimmung und Definition
Unter „gemeinschaftlichem Wohnen“ wird in der Studie eine Wohnform verstanden, die zusätzlich zu privaten Wohneinheiten über gemeinschaftlich nutzbare Räume verfügt. Dieser räumliche Aspekt ermöglicht nachbarschaftliche Beziehungen unterschiedlicher Intensität, wodurch gegenseitige Unterstützung auf direktem Weg gelebt werden kann. Solidarisches Handeln einer solchen Gruppe kann überdies positive Auswirkungen auf das umgebende Wohnumfeld haben. Diese Wohnformen können unter bestimmten Voraussetzungen im Gegensatz zu „individuellem“ Wohnen besser auf demografische Entwicklungen reagieren.

Demografische Entwicklung und Flächenverbrauch
Wien befindet sich in einem starken Wachstumsprozess, was den Druck auf die Wohnflächen  im Neubau als auch im Bestand erhöht. Der dadurch steigende Energie- und Flächenverbrauch kann auch durch gemeinschaftliches Wohnen reduziert werden. Durch die Auslagerung gemeinschaftlich nutzbarer Bereiche kann der Anteil der privaten und individuellen Wohnfläche minimiert und Kosten können gespart werden. Bereits heute sind fast die Hälfte aller Wiener Haushalte Ein-Personen-Haushalte. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl  jener, die dies unfreiwillig sind. Viele von ihnen leben, teils aus ökonomischen Gründen, alleine in ehemaligen Familienwohnungen. Dadurch steigt die Gefahr der Vereinsamung. Räumliche und andere kommunikationsfördernde Voraussetzungen können dazu beitragen, ein nachbarschaftliches und sozial aktivierendes Umfeld zu schaffen, welches diese Wohnform speziell für ältere Menschen zu einer Alternative macht.

Typologien gemeinschaftlichen Wohnens
Anhand von Projektbesichtigungen und Analysen, sowie ExpertInneninterviews mit PlanerInnen, Prozessbeteiligten und Bauträgern wurde in dieser Studie zum ersten mal ein Überblick über Projekte mit einem dezidiert gemeinschaftsorientierten Charakter im geförderten Wohnbau geschaffen, die in den letzten fünf bis sieben Jahren realisiert wurden und werden. Sie wurden in Abhängigkeit ihres jeweiligen architektonisch-räumlichen Angebots - der »Hardware« - und ihren gemeinschafts- und kommunikationsfördernden Kriterien - der »Software« kategorisiert. Darunter wurden jene Prozesse zusammengefasst, die dazu beitragen, aus anonymen BewohnerInnen Nachbarn und Nachbarinnen werden zu lassen. Diese Prozesse reichen von partizipativen Elementen in der Planung über moderierte Prozesse in der Besiedelung bis zu Prinzipien der Selbstverwaltung in der Nutzungsphase. Das Angebotsspektrum wurde nach dem Maßstab und den Intentionen der Projekte eingeordnet.

Auf der Ebene des Maßstabes teilen sich die Projekte in Wohngemeinschaften,  Wohngruppen, Hausgemeinschaften und sogenannte Integrierte Nachbarschaften als größte Einheit. Größe und Typologie stehen in unterschiedlichem Zusammenhang und ermöglichen engere oder weiter gefasste Formen des Zusammenlebens. In Bezug auf die mögliche Wirkung auf das Wohnumfeld lässt sich ein direkterer Zusammenhang zwischen Maßstab und Typologie ablesen: mit zunehmender Größe, Identifikation der BewohnerInnen mit dem eigenen Gebäude und dem inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft steigt die Außenwirkung.

Nach ihren Intentionen lassen sie sich darüber hinaus nach den jeweiligen Lebenssituationen und -formen, Interessensgemeinschaften, sowie des Schwerpunktes der Pluralität und Diversität hinsichtlich Generationen und Herkunft der BewohnerInnen einordnen.

Folgende Projekte werde eingehend besprochen:
CITYCOM2; Young Corner Flatshare; Wohngruppe für Fortgeschrittene; das Wohnprojekt Wien; MM11 – mitten im 11ten; so.vie.so; ICH_DU_WIRplus; OASE 22; Wohnzimmer Sonnwendviertel; Bike-City; das Wohnprojekt in der Grundsteingasse; der Wohnhof Orasteig; sowie das Interkulturelle Wohnen »Regenbogen«.
Erkenntnisse und Beobachtungen aus Baugruppen-Projekten, wie jene in der Seestadt Aspern, fließen in die Studie ebenfalls mit ein.

Hardware
In einem eigenen Kapitel werden Wohnungsgrundrisse, Gemeinschaftsflächen und Freiraumangebote hinsichtlich ihres Einflusses und Potenzials der Gemeinschaftsförderung untersucht. Speziell den Gemeinschaftsräumen kommt eine große Bedeutung zu. Ihr Spektrum reicht von nutzungsoffenen bis hin komplett ausgestatteten Räumen und sie sind in ihrer Größe und Situierung innerhalb des Hauses oder Bauplatzes sehr differenziert. So finden sich Gemeinschaftswohnküchen, Kinderspielräume, Jugendräume, Werkstätten und Büros, als auch Räume für sportliche Betätigung oder zur Erholung. Eine Sekundäranalyse vorliegender Studien zu diesem Thema ergänzt dieses Kapitel.
Fünf Projekte wurden hinsichtlich des Verhältnisses der Gesamt-Wohnnutzfläche zur Gemeinschaftsfläche genauer untersucht. Dabei zeigt sich, dass durch die Heimförderung Gemeinschaftsflächen im größten Ausmaß bezogen auf das Verhältnis zur Wohnnutzfläche umgesetzt werden konnten, wie z.B. beim „Wohnprojekt Wien“.. Bestandsprojekte haben es am schwersten, finanzierbare Gemeinschaftsflächen herzustellen. Die immanente Problematik der Finanzierbarkeit von Gemeinschaftsflächen im Rahmen der bestehenden Förderbestimmungen wird in einem eigenen Kapitel erörtert.

Software
Folgende Prozesse und Instrumente wurden als relevant für gemeinschaftliche Wohnformen identifiziert:

  • die Möglichkeit der Mitbestimmung  in der Planungsphase:
  • Gemeinschaften bilden sich bei jenen Projekten sehr einfach und direkt, die den BewohnerInnen bereits vor der Besiedelung durch Planungspartizipation die Möglichkeit der Einbindung in das Projekt bieten, speziell bei der Mitbestimmung über Fragen der Gemeinschaftsangebote. Zudem sind Projekte dadurch in der Lage, flexibler auf unterschiedliche Lebenssituationen und -formen einzugehen.
  • Zugang und Wohnungsvergabe
  • Hier wird auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Vergabe von Wohnraum eingegangen und auf die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Gemeinschaft ergeben.
  • die Nutzung, Verwaltung und Aneignungsmöglichkeiten der hausbezogenen Angebote durch die BewohnerInnen, sowie
  • weitere Instrumente, wie Besiedelungsmanagement oder Kommunikationsmittel.

Qualitativer und quantitativer Bedarf

Bedarfserhebung
Gemeinsam mit dem Österreichischen Gallup Institut wurde eine repräsentative Bedarfserhebung erarbeitet. Bei der Bedarfserhebung, die im Zeitraum zwischen Juli und August 2014 stattfand, wurden 1000 Personen unterschiedlichen Alters zu ihren Vorstellungen, Motiven, Ängsten und Erwartungen hinsichtlich Aspekten gemeinschaftlichen Wohnens befragt.
Daraus lassen sich folgende Erkenntnisse ziehen:

  • Der Bekanntheitsgrad von Gemeinschaftlichem Wohnen ist hoch. Mehr als zwei Drittel der Befragten ist die Wohnform bekannt. Das legt den Schluss nahe, dass es sich bei dieser Wohnform um kein Randthema mehr handelt.
  • 39% der befragten Personen aller Altersgruppen können sich grundsätzlich vorstellen, in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt zu ziehen. Schüler und StudentInnen stehen dieser Wohnform insgesamt am offensten gegenüber.
  • Betrachtet man die unterschiedlichen Lebensphasen, so zeigt sich, dass der Umzug in eine solche Wohnform in der Pensionierung (33%), nach dem Tod des Partners oder der Partnerin (25%), sowie in der Zeit der Familiengründung (24%) am ehesten vorstellbar ist.
  • Gegenseitige Unterstützung im Alltag, das Leben in Gemeinschaft („Nicht-allein-sein“) und das Teilen („Sharing“) von Räumen, Gegenständen und Fahrzeugen wären für Viele ein Grund, in ein derartiges Projekt zu ziehen.

Die Tendenz geht in dahin, dass ältere Menschen durch gemeinschaftliches Wohnen gegenseitige Hilfe erwarten, Jüngere eher das Einsparen von Kosten. Zudem besteht bei relativ hohem Interesse an dieser Wohnform Unsicherheit darüber, wohin man sich wenden soll, um mehr über bestehende oder geplante gemeinschaftliche Wohnprojekte zu erfahren.

Workshop (Akteure, Ablauf, Ergebnisse)
Eine ExpertInnen-Runde diskutierte die Ergebnisse der Meinungsumfrage. Dabei waren VertreterInnen aus umsetzungsrelevanten Bereichen anwesend, wie beispielsweise der  Wohnfonds, der Baudirektion, dem Wohnservice, der Gebietsbetreuung, dem Stadtteilmanagement und anderen. Gemeinsam wurden Vorschläge erarbeitet, die zur Verbesserung der Umsetzung gemeinschaftlicher Wohnprojekten getan werden sollten.

Ausblick / Handlungsempfehlungen

Aufbauend auf diesen Ergebnissen und den Ergebnissen der vorangegangenen eigenen Recherchen werden in Kurzfassung von den Verfassern folgende Handlungsempfehlungen formuliert, die für die Förderung gemeinschaftlicher Wohnprojekte in Neubau und Bestand relevant sind:

  • Information und Beratung Interessierter, Schaffung eines Wissenspools und ExpertInnenbeirats, Vernetzung relevanter Akteure, ressortübergreifendes Handeln
  • Überprüfung und Adaptierung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, wie der Wohnbauförderung, der Bauordnung (insbesondere der Stellplatzverpflichtung), sowie der Wohnungsvergabe
  • Förderung der Entwicklung von  robusten, aneignungsfähigen Wohnmodellen, Unterstützung der Selbstorganisation durch verstärkte sozialwissenschaftliche Begleitung und situationsbezogene Mediationsangebote.
Fakten