Diversität im halböffentlichen Raum

Fakten minus Mythen = Handlungsbasis

Österreich ist ein Einwanderungsland. Die Einwanderungsfrage konzentriert sich auf die großen Städte, darunter Wien. Rund ein Drittel der Wiener Wohnbevölkerung hat einen Migrationshintergrund (MH) - obwohl ein Blick ins Wiener Telefonbuch auf eine viel größere Zahl über einen viel längeren Zeitraum hindeutet - und wiederum ein Drittel der Wiener Wohnbevölkerung lebt im kommunalen Wohnbau (Statistik Austria 2009). Unternehmen mit MH machen rund 30% der Wiener Wirtschaft aus, mit 90 verschiedenen Staatsbürgerschaften. Fast die Hälfte der Wiener Betriebe wird von Menschen mit MH geleitet. Von Einzelunternehmen mit MH sind aber nur 2% aus der Türkei (WWFF 2009). Auch ist es wichtig, von überholten Vorstellungen wie monoethnischen und monolingualen Gruppen und Gebieten Abschied zu nehmen, und sich mit der Realität von Menschen aus über 170 Herkunftsländern mit allen ihren Kombinationen und Biografien zu beschäftigen, die wiederum zunehmend interkulturelle Netze entstehen lassen. Die "Superdiversität" (Vertovec 2007) ist die neue Realität. Die Menschen sind da, und haben Pflichten und Rechte. Was nicht oft genug erwähnt und ausgeschöpft wird, ist dass sie auch großteils eine unbändige Motivation, Ambition und Potenzial haben - sonst hätten sie nicht den Riesenschritt in eine neue, unsichere Welt gemacht.

Das Potenzial der Einwanderung ist ein prinzipiell positives. Die Stadt, insbesondere die europäische Stadt, hat seit Jahrhunderten von Neuankömmlingen profitiert, die zwar anfangs durchaus Probleme verursachten, längerfristig zur Stärke und Dynamik der Stadt beigetragen haben. Zahlreiche Studien belegen: Die makro-ökonomischen Strukturen (Wettbewerbsfähigkeit, erwerbstätiger Bevölkerungsanteil, Steuern, Pensionen) wie die mikro-ökonomischen (Nahversorgung, Dienstleistungen) können heute realistischerweise angesichts der realen Geburtenraten und Anforderungen der globalen Wirtschaft nur durch Zuwanderung gesichert werden; von kultureller Bereicherung noch gar nicht zu reden.

Defizite und Herausforderungen

Dennoch wird der Umgang mit Diversität durch Einwanderung von vielen immer noch als Minenfeld angesehen. Durch mangelhaften interkulturellen Wissensstand, fehlendes Verständnis und unzureichende Kompetenz innerhalb der Bevölkerung im Allgemeinen und der Fachleute aus dem Bereich Stadtplanung und Architektur im Besonderen, entstehen in vielen Städten negative, desolate Stadträume und Wohnareale, die Integration weder fördern noch ermöglichen. Das gilt besonders für den halböffentlichen Raum, welcher speziell im Wohnbau als der Ort identifiziert wurde, in dem bei entsprechender Planung Integration und Diversität stattfinden kann, der jedoch bisher von einer dezidierten Planung oder Förderung ausgenommen war und für den es auch wenig Fachliteratur und verwendbares Planungswissen gibt. Dieses wurde nun zum Anlass genommen, eine neue "integrative" und " interkulturelle" Sprache für den halböffentlichen Raum im Wohnbau zu entwickeln. Schließlich gibt es Steuerungsmöglichkeiten, wo durch physische Interventionen und strukturelle Prozesse aktiv die Integration gefördert werden kann.

Zustände wie Lösungen sollen möglichst ohne Sentimentalität und Ideologie betrachtet werden. Vergleicht man die Wohnqualität, so stellt man leicht fest, dass Migranten schlechter als der Rest der Bevölkerung wohnen: Beengter, in älteren und schlechter ausgestatteten Wohnungen, für die sie mehr zahlen müssen und weniger Sicherheit vor der Kündigung haben. Die sozial-staatliche Regulierung durch sozialen Wohnungsbau, Notwohnungen und Wohngeld verhindern nur bedingt Ausgrenzung. Eingebürgerte Migranten können zwar strukturell integriert werden, sind aber gleichzeitig auf ausgedehnte Verwandtschaftsnetze angewiesen. Es fehlen in vielen städtischen Wohngebieten in Europa (u. a. aufgrund des Fehlens der geeigneten Begegnungsräume dafür) Nachbarschaftsbeziehungen zu Alteingesessenen sowie allgemeine Akzeptanz und Grundvertrauen.

Dies hat dazu geführt, dass soziale Probleme in Wien derzeit vorwiegend in zwei Wohntypen vorkommen. Zum einen ziehen neu Eingebürgerte in städtische Gemeindebauten aus dem 20. Jh. ein. Dies entspricht zwar der Gesetzeslage. Jedoch werden die Eingebürgerten dort meist nicht, wie beispielsweise in Kanada, als neue Bürger willkommen geheißen, sondern nach wie vor von Vielen noch immer als Ausländer und Fremdkörper betrachtet (siehe Tagespresse). Klarerweise gibt es Versäumnisse und Provokationen beiderseits, die nicht verschwiegen werden sollen. Ungeachtet der Tatsache, dass zumindest auf Seiten der Eingebürgerten hohe Voraussetzungen erfüllt werden mussten, wie z. B. geregelte Arbeit, entstehen in diesen Wohnanlagen jedoch vermehrt Interessensgruppen und Konfliktsituationen, die angeheizt durch diffuse Ängste der "Überfremdung", Unsicherheit und Kontrollverlust, sogar politisch wirksam sind.

Der zweite Wohntypus in Wien ist der großen Masse der gemeinnützigen und privaten Wohnbauten, die in den letzten Jahrzehnten beispielsweise jenseits der Donau entstanden sind, zuzuordnen. Die Rede ist hier nicht von herausragenden Themenwohnprojekten, wie "Inter-Ethnische Nachbarschaft" in der Wiesen, die "Sargfabrik" oder andere interkulturelle, autofreie, gegenderte oder umweltfreundliche Wohnmodelle. In diesen Themenbauten zieht freilich eine relativ aufgeklärte, offene, materiell abgesicherte Schicht von Stadtbewohnern ein, die Diversität nicht nur toleriert, sondern als Bereicherung empfindet. Auch die Menschen mit MH, die hier einziehen, gehören alleine aufgrund der Wohnkosten tendenziell der Mittelschicht an und sind daher bezogen auf ihren sozialen Status, Lebensstil und Einstellung nicht so weit entfernt von ihren autochthonen Co-Bewohnern - an sich Zeichen eines positiven Integrationsprozesses. Hier wird auch einiges an Aufwand für Gemeinschaftseinrichtungen betrieben. Es entstanden aber trotz Bemühungen der Stadt, in Hinsicht auf Erschließung, Gemeinschafts- und Kontakträume allgemein leider zu viele für die heutige Zeit bemerkenswert schlichte und undifferenzierte Wohnbauten, wo es den Errichtern und (oft namhaften) Planern offensichtlich nicht der Mühe wert war, konkrete planerische Maßnahmen sowie Qualität steigernde, wohnbezogene Dienstleistungen und Management als Teil des Konzeptes zu integrieren (Kohlbacher, Reeger 2003, Obermayer 1996, Lebhart, Münz, Fassmann 2007, Gifflinger, Wimmer 2008 etc). Dabei wird längst eine reine Wohnanlage ohne unterstützende Infrastruktur für Arbeit und Produktion, sowie Einrichtungen für Begegnung, nichtkommerzielle Aktivitäten, Frei-zeit und Konsum aufgrund der sich verändernden Lebensstile, Arbeitszeiten, Arbeitsverhältnissen und Familienstrukturen als nicht mehr ausreichend empfunden. Die (Wieder-)Einführung von neuen und sich überlagernden Nutzungen sowohl für Neubauten als auch in bestehende Anlagen, sowohl im Kleinen wie im Großen, ist daher nicht nur aus Sicht der Integration ein Muss.

Prinzipien des integrativen halböffentlichen Raums im Wohnumfeld

Dies leitet zu den wesentlichen Prinzipien des integrativen Wohnbaus und seinen halböffentlichen, freiräumlichen Raummanifestationen über:

Diversität ist nicht auf Einwanderer beschränkt - es entwickelt sich ein immer komplexeres Bild von Lebensentwürfen, Lebensabschnitten und Verhaltensmustern auch in der autochthonen Bevölkerung, und zwar quer durch alle Altersgruppen, dem im Raumangebot Rechnung getragen werden muss.

Ohne Dichte und Durchmischung der Funktionen kann es auch keine soziale, menschliche oder ökonomische Diversität geben. ("Bio-")Diversität ist eine notwendige Voraussetzung für lebendige Stadtquartiere und nachhaltiges Stadtwachstum. Trennung nach Alter und Geschlecht (die grassierenden "Käfige") ist kein Zukunftsmodell.

Integration durch Interkulturalität statt Multikulturalität:
Es sollte nicht wie bei der Multikulturalität um die Klassifizierung einzelner Ethnien bezogen auf ihr Herkunftsland oder auf abgeschlossene Gruppen- und Vereinstätigkeiten oder um die Förderung jeder einzelnen Minderheitsgruppierung mehr gehen. Dieses bewirkt lediglich eine Festlegung der Einwanderer auf eine ewige Fremdheitsposition, die in der Folge zur Ghetto-Bildung, radikaler Gruppenbildung und Abschottung führen kann. Stattdessen muss ein halböffentlicher Raum zumindest potenziell die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Individuen untereinander bzw. zwischen Individuen und der Räumlichkeit selbst eröffnen. Interkulturalität ist Interaktion, wobei die Interaktion auch mit Blickkontakte beginnen kann oder auf mentale Anerkennung anderer Nutzer oder des Raumes selbst.

Nett sein kann jeder, richtig streiten will aber gelernt sein. Es geht in den progressiven Städten in Einwanderungsländern (u. a. Kanada, Holland, Australien) nicht mehr darum, Konflikte zwischen verschiedenen Gruppierungen zu verhindern. Perfekte Harmonie ist weder erreichbar noch wünschenswert. Konflikte sind im individuellen wie im Gesellschaftsleben ein Reifungsprozess. Eher ist die Entwicklung einer Kapazität mit Unterschieden umzugehen, eine Fähigkeit zu Verhandlungen und zu zivilisierter Auseinandersetzung, kreativer Vermittlung und gegenseitiger Innovation erwünscht, zu die der halböffentliche Raum anregen soll.

Träger der Integration sollen nicht nur die Migranten, sondern auch die österreichische Gesellschaft im Ganzen wie in Teilen, der Staat und die kommunalen Verwaltungen sein. Die Bereitschaft zur Kommunikation auf persönlicher Ebene, zu einer nicht-gönnerhaften Offenheit gegenüber anderen Kulturen, zu besseren multilinguistischen und interkulturellen Fähigkeiten und zum alltäglichen Austausch sind Aufgaben aller.

Die "Rückgewinnung von Freiräumen für alle Bewohner" (Krummacher et al 2003) sowie eine Differenzierung dieser Freiräume mit unterschiedlichen (halb)öffentlichen Charakteren soll Priorität haben. Der dadurch entstehende niederschwellige Kontakt ist die Basis für weiterführende Verständigung.

Oft kann intelligente Planung eine bessere Situation auch ohne Mehrkosten erreichen, aber wir glauben, dass die Ziele der Diversität auch etwas wert sein müssen. Zur Finanzierung kommen Bundes- und Landes-, sowie kommunale Mittel in Betracht. Einschlägige Geld gebende Stiftungen wie im angelsächsischen Raum (Rowntree Foundation, Cadbury Foundation etc) gibt es hier leider nicht, vor allem für Projektplanungs- und Partizipationsmaßnahmen und Moderation. Punktuell angewendete Interpretationen der bestehenden Bestimmungen (wie beispielsweise die Bonus-Kubatur-Regelung für Gemeinschaftsflächen in der Siedlung Kabelwerk) sollen allgemeine Gültigkeit haben. Die Realisierung der Ziele der Interkulturalität sollte in der Wohnbauförderung verpflichtend eingebaut werden und auch durch privatwirtschaftliches Engagement im eigenen Interesse unterstützt werden.

Best Practices weltweit

Basierend auf diesen Prinzipien werden im zweiten Teil der Studie Wohnprojekte aus dem Ausland analysiert, die den Stand der Dinge in Bezug auf einen integrativen, interaktionistischen, halböffentlichen Raum darstellen. Zusammen mit Best-Practices-"Software" Maßnahmen, deren Durchführung erfolgreich zu einem besseren Verständnis und Miteinander in der jeweiligen Bevölkerung geführt haben, wird durch diese Projekte demonstriert, dass interkultureller Raum möglich und sogar noch erweiterbar ist.

Handlungsanweisungen, Methoden und Anregungen

Der rein sozioökonomische Ansatz oder der rein physische Planungsansatz können beide nicht alleine dem Thema adäquat begegnen.

Im dritten Teil der Studie können daher so genannte "Patterns" oder "Muster" nachgelesen werden, die einzeln kombinierbar bzw. in ihrer Gesamtheit Diversität im halböffentlichen Raum fördern können. Auch hier wird eine Ergänzung von "Hardware": physischem Raum in Anleh-nung an "Eine Mustersprache" (Christopher Alexanders et al) - und "Software": Raum, basierend auf einer sozialen/funktionalen Idee oder Aktivität gemäß Gordon Allport's "Contact Hypothesis" - vorgeschlagen. Beides muss gemeinsam bei der Planung von Diversität im halböffentlichen Raum beachtet werden.

Die zahlreichen in dieser Studie vorgeschlagenen Hardware- oder Planungslösungen ("Patterns") sind als Denkanstöße und Leitbilder für Architektur- und Stadtplanungsbeteiligte gedacht, die ihrerseits für spezifische Projekte durchaus ihre eigene "Patterns" entwickeln sollten. Diese Hardware-"Patterns" müssen durch "Software" (Einführung bzw. Verstärkung bereits bestehender Maßnahmen wie Grätzel-Management zur Steuerung und Vernetzung der Aktivitäten, Moderation/Mediation, Förderung von Selbsthilfeaktivitäten, Informationstransfer, Dialog- und Kooperationsförderung, Einführung runder Tische und Foren) ergänzt werden.

Der Weg nach vorne

Die Studie endet mit Empfehlungen für eine Reform der österreichischen Wohn-bau(förderungs)politik. Oft sind nämlich ökonomische Gründe oder fehlende Berücksichtigung in Normen, Baugesetzen, Stadtgestaltungsrichtlinien und Förderstrukturen dafür mitverantwort-lich, dass der Diversitätsaspekt faktisch ignoriert wird, meist solange bis sich das Fehlen - zusammen mit anderen übergeordneten Faktoren - durch Ausschreitungen im Einzelfall, wie ge-legentlich im Banlieue von Paris, aber auf jeden Fall durch Vandalismus, Verfall, allgemeine Abschottungstendenzen und politische Verhetzung bemerkbar macht.

Eine ständige Weiterbildung in "kultureller bzw. interkultureller Kompetenz" unter Einbeziehung von Experten und "people on the ground" würde allen Planungsverantwortlichen sehr gut tun.

Der Stein ist ins Wasser geworfen und zieht seine Kreise. Kontextuelle Überlegungen und pro-jektspezifische Lösungen sollten in der Folge von jedem Architekten für jedes Projekt neu entworfen und realisiert werden, um kumulative Verbesserungen zu erzielen. Wir hoffen, in einem weiteren aktiven Diskussionsprozess mit Stadt, Wohnbauträgern und Planern diese Patterns weiter zu entwickeln und sie zum Teil eines Weiterbildungsprozesses im Sinne einer interkulturellen Kompetenz und eines Bewusstseinserweiterungsprozesses zu machen.
Fakten
  • Projektträger
    Atelier Biswas Vienna/Berlin/Kuala Lumpur
  • Projektleitung/Bearbeiter
    Ramesh Kumar Biswas
  • Laufzeit
    Oktober bis Dezember 2009
  • Kontakt
    office[at]rameshbiswas.com
  • Downloads
  • Abstract 30.46 KB
    Projektbericht 15.44 MB